Kraut, als Obst- oder Zuckerrübensirup, hat bereits lange seinen Platz auf den Speiseplänen im Rheinland, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts neben den Niederlanden und Ostbelgien ein Zentrum der Krautproduktion war. Dabei ist es zum einen ein gutes Beispiel für die Entwicklung und den Wandel der Lebensmittelproduktion, zum anderen lässt seine wechselhafte Beliebtheit Rückschlüsse auf die rheinischen Nahrungsgewohnheiten zu.
Lebensmittelkonservierung
Vor der flächendeckenden Einführung von Kühlschrank und Gefriertruhe Mitte des 20. Jahrhunderts war die Produktion von Kraut eine Möglichkeit, die Obst- und Zuckerrübenernte als Wintervorrat zu konservieren. Die geernteten Früchte wurden in einem zeitaufwendigen Prozess unter Zugabe von Wasser in Kesseln über dem Feuer stundenlang gekocht und dann mit meist einfachen Spindelkeltern gepresst und durch Leinensäcke gefiltert. Der gewonnene Saft dickte durch erneutes Kochen zu Sirup ein. Der hohe Zuckergehalt der zähflüssigen Masse sorgte für eine fast unbegrenzte Haltbarkeit. Obstkraut wurde traditionell im Bergischen Land, Rübenkraut am Niederrhein hergestellt, was auch mit den Obst- und Rübenanbaugebieten zusammenhing. Das preiswerte und schmackhafte Kraut war für viele Rheinländer und Rheinländerinnen Teil der alltäglichen Grundversorgung, etwa als Brotaufstrich oder Süßungsmittel. Während man Obstkraut als Delikatesse schätzte, galt Rübenkraut lange als „Arme-Leute-Essen“.
Krautkochen im Nebenerwerb
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der bäuerlichen Betriebe, die im Nebenerwerb Kraut produzierten. Ähnlich wie Backhäuser, gehörten Pressen und Kochvorrichtungen zur Ausstattung vieler Höfe. Sie verarbeiteten Früchte aus eigenen Obstgärten oder Lieferungen aus den umliegenden Obstanbaugebieten, wie vor allem im Bergischen Land üblich. Der Vertrieb fand über Mittelshändler oder selbstständig im Winter auf dem Markt statt, wenn die anderen Arbeiten ruhten. Die bäuerlichen Pressereien bestanden häufig über mehrere Generationen meist bis in die 1960er Jahre, als immer geringere Gewinnspannen und die zunehmende Spezialisierung vieler Höfe sie zur Aufgabe zwangen.
Die zunehmende Mechanisierung des Zuckerrübenanbaus kurbelte jedoch auch die industrielle Rübenkrautproduktion im Rheinland an, deren Blütezeit um 1900 begann. Hier wurden die von unter Vertrag stehenden Landwirten gelieferten Rüben in großen Mengen gekocht, in riesigen Pressen der Saft gewonnen bis schließlich im Verdampferprozess der Sirup entstand. Heute sorgen hochmoderne Anlagen für eine vollautomatisierte Verarbeitung und gleichbleibende Produktqualität, wie in der Krautfabrik Grafschafter in Meckenheim. Hochkonjunktur hatten die Rübenkrautfabriken in Kriegs- und Nachkriegszeiten, in denen Kraut als Ersatz für Butter und Zucker diente.
Surrogat in Notzeiten
Für die private Krautproduktion zur Selbstversorgung im ländlichen Raum bot meist der eigene Nutzgarten die Grundlage. Mit einfachen Pressen und Kochkesseln über dem Herd entstand der Sirup. Die Familie von Anneliese B. (geb. 1915) in Uckerath verarbeitete Birnen und Zwetschen zu Kraut und bewahrte dieses, in Steintöpfen abgefüllt, im kühlen Keller auf. Mit der Verbreitung von Krautfabriken nahm die private Produktion ab, lebte aber besonders in den Notzeiten während und nach den Weltkriegen wieder auf und wurde sogar staatlich empfohlen. Aufgrund von Rohstoff- und Materialmangel griff man auf alte Herstellungsverfahren zurück oder presste und kochte Zuckerrüben, aber auch Möhren, Rote Beete oder Apfelschalen in selbstgebauten Konstruktionen, nutzte alte Waschkessel und Kochgelegenheiten – nicht nur auf dem Land, sondern auch im städtischen Raum. Kraut war ein beliebtes Handels- und Tauschmittel dieser Zeit.
Industrielle Produktion
In den 1950er Jahren verlor durch den steigenden Wohlstand vor allem die private Krautproduktion an Bedeutung. Gegessen wurde Kraut weiterhin, wenn auch nicht mehr als Alltagsspeise. Die Bio- und Vollwerternährungsbewegung der 1980er Jahre entdeckte Obst- und Rübenkraut als gesündere Alternative zu anderen Brotaufstrichen und als Süßungsmittel. Es wurde in alternativen Naturkost- und Bioläden vertreiben. Heute ist es deutschlandweit in Supermärkten erhältlich. Hier, aber auch in Museen, die die traditionelle Krautherstellung zeigen, wird es als regionaltypische Delikatesse vermarktet. Seit 2012 ist zum Beispiel das „Rheinische Apfelkraut“ eine geschützte Marke.
Weiterführende Literatur:
Döring, Alois: „Appel-, Pären-, Rüwenkrutt“. Krautkochen im Rheinland – Von der häuslichen Krautbereitung zur Krautfabrikation mit EU-Qualitätssiegel. In: Keßler, Carolin/Schürmann, Thomas: Der Apfel. Kultur mit Stiel. Ehestorf 2014. S. 107-125.
Siuts, Hinrich: Bäuerliche und handwerkliche Arbeitsgeräte in Westfalen. Schriften der Volkskundlichen Kommission für Westfalen, Band 26. Münster 1982. S. 100ff.