„Wandel im ländlichen Raum 1900-2000“ – so der inhaltliche (Unter-)Titel des von der DFG geförderten Pilotprojektes zum Portal Alltagskulturen im Rheinland. Während die zeitliche Begrenzung zunächst eindeutig erscheint, so lässt sich für den „ländlichen Raum“ das Gegenteil konstatieren: Der ländliche Raum ist vielschichtig und wird, je nach Perspektive, unterschiedlich gefasst. Den ländlichen Raum gibt es nicht, der ländliche Raum ist – wie der urbane Raum auch – ein zusammengesetztes Mosaik aus vielen Einzelelementen, er war und ist niemals homogen und kann nur unter Berücksichtigung der soziokulturellen und zeitlichen Dimensionen als Ordnungskategorie dienen.
Das ländliche Rheinland um 1900
Um 1900 war der größte Teil des Rheinlandes, von Aachen im Westen und Koblenz im Osten bis Kleve im Norden und Saarbrücken ganz im Süden, ländlich geprägt. Es gab nur einige wenige Städte und vor allem die Eifel, der Westerwald und das Bergische Land waren stark zersiedelt. Dörfer waren das augenscheinlichste Strukturelement und innerhalb dieser kleinen Einheiten gab es – wie im städtischen Kontext auch – ein mehr oder weniger ausgeprägtes, starres Normen-, Werte- und Rollengefüge mit klaren Hierarchien und Arbeitsteilungen. Leben auf dem Land bedeutete dabei aber nicht unbedingt Arbeiten in der Landwirtschaft, auch hier waren die Berufe und Arbeitsfelder vielseitig und differenziert, Siedlungs- und Wohnformen unterschieden sich je nach Region und sozialer Schicht und nicht für jeden und alle war die (Groß-)Familie der soziale Bezugspunkt, wie gerne suggeriert wird.
Ungleichzeitigkeiten im Wandel des 20. Jahrhunderts
Gesellschaftliche Wandlungsprozesse – so das gängige (Vor)urteil – erreichten das Dorf merklich später als die Stadt, was man beispielsweise an der Mode in Fotografien aus dem ländlichen Raum oder im Bereich der Nahrungskultur ablesen kann. Doch für viele Prozesse des 20. Jahrhunderts war der ländliche Raum auch Motor und Vorreiter für Entwicklungen und Neuerungen, von denen die Menschen in der Stadt profitierten, wenn z.B. auf den Feldern neues, resistentes Saatgut getestet wurde oder modische Trends, die vor allem in städtischen, bürgerlichen Schichten en vogue waren, nur durch den Einsatz und die Weiterentwicklung der Bandweberei im ländlichen Raum realisiert werden konnten. Diese gleichzeitige Ungleichzeitigkeit der gesellschaftlichen Prozesse des 20. Jahrhunderts spiegelt sich im Alltagsleben der Menschen wieder.
Heute leben in Nordrhein-Westfalen etwa 6 Millionen Menschen im ländlichen Raum, der trotz Urbanisierungsprozessen noch immer rund zwei Drittel der Landesfläche ausmacht. Ungleichzeitigkeiten von Innovationen und Traditionen finden hier ebenso statt wie in den urbanen Zentren. Dabei ist der ländliche vom urbanen Raum kaum mehr zu trennen – unüberschaubar sind die Beziehungen und Wechselwirkungen zum Beispiel durch Pendler, Tourismus und Wirtschaft, nicht zu vergessen Prozesse der Medialisierung. Das Portal Alltagskulturen zeigt die Vielfalt des ländlichen Raums im Rheinland in seinen alltagskulturellen Perspektiven und zeitlichen Dimensionen auf, indem es die heterogenen Quellen kontextualisiert und in Beziehung setzt. Nur so können Spezifika und Gemeinsamkeiten alltagskultureller Handlungsmuster des Lebens im ländlichen Raum aufgezeigt und entschlüsselt werden.