Als einzige kulturwissenschaftliche Institution in Deutschland legt das LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte seit über 60 Jahren einen Schwerpunkt seiner Arbeit auf die filmische Dokumentation und Erforschung des immateriellen kulturellen Erbes im Rheinland. Wie dies auf die thematisierten Alltagskulturen selbst zutrifft, so lassen sich auch in der Filmarbeit einschneidende Wandlungsprozesse im Hinblick auf Methode, Technik, Inhalte und Zielsetzungen in diesem Zeitraum ablesen.
Es genügt ein Blick auf die Titel im Inhaltsverzeichnis des Filmkatalogs, um einen Eindruck davon zu bekommen, welche Spezialgebiete behandelt werden und wie vielfältig die Themen der Filmdokumentationen des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte (LVR-ILR) und seiner diversen Vorgängereinrichtungen sind. Ob nun spezialisierte Handwerksberufe wie „Die Klompenmacher“ oder „Der Einsteckreider“ oder lokal ausgeprägte Spielformen wie „Das Hötschelspiel“ – bei vielen Filmen bzw. vielen Interessierten mag es zunächst rätselhaft bleiben, was genau sich dahinter verbergen mag, insbesondere wenn die Kenntnisse zu den Drehorten nicht sehr ausgeprägt sind.
Die frühen Filme
„Maifest in Bornheim bei Bonn“ – so hieß der erste vom damaligen Leiter der „Volkskundlichen Arbeitsstelle des Landschaftsverbandes Rheinland beim Institut für geschichtliche Landeskunde an der Universität Bonn“ 1962 gedrehte Film. Noch im selben Jahr wurden vier weitere Filme produziert. Sie bildeten den Auftakt zu einer bis heute kontinuierlich weitergeführten Tradition, das immaterielle Kulturerbe der Region auf bewegten Bildern festzuhalten. So sind insgesamt ca. 260 wissenschaftliche Filme entstanden, die Aspekte des Alltags, Arbeitskulturen, spezifische Traditionen und Bräuche dokumentieren.
Nicht nur die Alltagskultur, auch die Filmarbeit erlebte in mehr als 60 Jahren einen tiefgreifenden Wandel, sodass die Filmdokumentationen heute unterschiedliche methodische Zugänge und Ziele repräsentieren. Vor allem die frühen Filme (1962-1980), die Filmreihen mit den Titeln „Altes Handwerk“, „Volksbrauch“ und „Bauernwerk“ (jeweils mit dem Zusatz „im Rheinland“) zugeordnet wurden, haben in erster Linie archivarisch-dokumentarischen Charakter. Sie sind aus der Befürchtung heraus entstanden, Wissen über Arbeitstechniken oder Bräuche könnten unwiederbringlich verloren gehen. Vor dem Hintergrund von rapiden Wandlungsprozessen, die den Alltag der Menschen tiefgreifend veränderten, wurde daher eine besondere Dringlichkeit empfunden, noch schnell – und so detailreich wie möglich – filmisch zu dokumentieren, wie Flachs zu Leinen verarbeitet oder mit dem Hunspflug gemäht wird, welche Rituale und Brauchhandlungen bei einer Kirmes oder rund um den 1. Mai und in welcher Reihenfolge begangen werden oder nach welchen Regeln das Bügelspiel gespielt oder eine Hausschlachtung durchgeführt wird. Dies musste erfolgen, solange es noch praktiziert wurde oder zumindest Zeitzeug*innen lebten, die eine Rekonstruktion oder – wie es im ILR-eigenen Filmkatalog 1989/90 hieß: „eine(r) einmaligen Wiederbelebung“ (S. 9) – einer bereits zum Zeitpunkt der Dreharbeiten nicht mehr existierenden Alltagswelt ermöglichten.
Einerseits sind dadurch einzigartige audiovisuelle Quellenmaterialien entstanden, die tatsächlich mittlerweile verschwundene Kulturelemente sehr genau dokumentieren und so als teilweise einmalige Zeugnisse kultureller Phänomene und Prozesse dienen. Darüber hinaus bieten sie praktische Anleitungen und einen möglichen Weg für den Wissenstransfer in Museen über die Verknüpfung der Objekte mit den im Film gezeigten Kulturtechniken – etwa indem das Buttern mit dem Drehfass oder die Bedienung eines Bandwebstuhls demonstriert wird. Die Herangehensweise transportiert aber andererseits noch weitere Motive und Einstellungen. Das Zurückliegende oder Verlorengegangene erfährt bei den Filmen von Gabriel Simons eine Wertung als etwas Ursprüngliches und „Echtes“. Er verband seine Arbeit mit der Hoffnung, auf diese Weise nachfolgenden Generationen Lernmaterial zur Aufrechterhaltung von Traditionen an die Hand zu geben. Die Methode seiner Filme impliziert die Vorstellung einer „objektiven“ Kamera und einer als „richtig“ gewerteten Abfolge von Handlungen wie etwa bei Festen. Dies veranschaulichen sehr deutlich seine Kommentare zu seinen Filmen, die sicher nicht zu Unrecht als ausufernd und oberlehrerhaft kritisiert wurden (vgl. Ballhaus 1989, S. 176).
Von der Dokumentation zur Forschung – die Veränderungsprozesse bis heute
Anfang der 1980er Jahre setzte sich allmählich ein neuer Ansatz durch, sicher auch begünstigt durch massive Kritik an der Methodik der Filmarbeit aus fachlicher Perspektive (etwa vom bereits zitierten Edmund Ballhaus). Ein deutlicher Paradigmenwechsel fand – personell bedingt – insbesondere ab 1985 statt, als Alois Döring und Berthold Heizmann als Regisseure die Verantwortung für die Filmarbeit von Gabriel Simons übernahmen. Die Drehorte und somit die räumliche Verortung – bis dahin oft nur Kulisse – kamen mehr ins Blickfeld und Menschen, die zuvor anonym oder als bloße Vertreter*innen ihres Berufstands eingesetzt wurden, bekamen Namen, soziale Kontexte und Stimmen. Erstmalig wurden überhaupt Interviews geführt und integriert sowie mit Beiheften zu den Filmen Kontext- und Hintergrundinformationen angeboten. Der zuvor noch häufig bewertende und belehrende Off-Kommentar wurde neutraler und beschreibender. Neben anderen Themenbereichen – wie etwa die urbane Industriekultur, später auch Migrationsthemen – änderte sich v. a. die Perspektive und die Zielsetzung der Filme. Nicht mehr Handlungsabläufe und die Abbildung einer Realität, indem ein Vorgang umfassend dokumentiert wird, standen im Zentrum des Interesses, sondern Ausschnitte davon, spezifische Momentaufnahmen und subjektive Bewertungen der Akteur*innen wurden in den Blick genommen. Die Kamera geriet mehr und mehr vom Dokumentations- zum Forschungsinstrument und die Filme selbst zu Produkten ethnographischer Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung.
Einen Einfluss auf diesen Wandel der Filmmethode hatte aber natürlich auch die technische Entwicklung. Der in den 1960er Jahren noch sehr teure (und zunächst noch in schwarz-weiß gedrehte) 16mm-Film schreibt sich anders in Arbeitspraxis und Filmsprache ein, als Aufnahmetechniken späterer Jahre, als der Kostenfaktor für Drehmaterial eine deutliche geringere Rolle spielte. Insbesondere die Ablösung der 16mm-Kamera ab Ende der 1990er Jahre durch Video- und Digitalfilm machte ein anderes Filmen mit viel mehr Nähe und stärkere Einbeziehung der Protagonist*innen möglich. Während in den frühen Jahren aufgrund des Zeit- und Kostendrucks „praktisch schon auf Schnitt gedreht“ (Kameramann Rainer Nagels im Interview) wurde, kann die Kamera heute das Geschehen ohne Eingriffe und zeitliche Limitierung begleiten.
In den jüngeren Filmen seit etwa der 2010er Jahre hat sich diese Einbindung der Akteur*innen und deren sozialen Kontexte deutlich verstärkt und steht nun im Fokus der Filmarbeit des ILR. Damit bekommen O-Töne der Protagonist*innen einen größeren Stellenwert, auf Off-Kommentare kann teilweise komplett verzichtet werden – so erstmalig beim Film „Mit Gebet und Gebell“ 2012/13. Begünstigt wurde dies erneut durch personelle Wechsel. So gehen die meisten Filme der letzten zehn Jahre auf Dagmar Hänel und Andrea Graf zurück. Neue Wege werden ebenfalls mit einer 2014 eingeführten Filmreihe „Kulturelles Erbe“ beschritten – altes Filmmaterial wird hier über Erzählungen von Zeitzeug*innen neu kontextualisiert und die Erinnerungskultur tritt in den Vordergrund (vgl. Graf 2017). Die Filmemacher*innen heute möchten „aktuelle gesellschaftliche Prozesse mikroperspektivisch aufzeigen und mentale Vorstellungswelten der Akteur/innen, ihre Handlungsmotivationen sowie Funktionen entschlüsseln.“ (Bauer, Graf 2016, S. 97)
Wandel und Kontinuitäten
So ist der Wandel der Alltagskultur der letzten 60 Jahre auch in der Filmarbeit des sie erforschenden Instituts eingeschrieben. In der Gesamtschau stellen die Filmdokumentationen des ILR ein facettenreiches und breit gefächertes Angebot dar – nicht nur in Bezug auf die behandelten Themen, sondern auch im Hinblick auf Stil, Methode, Filmtechnik, Adressat*innen und Zielsetzung. Als verbindende Gemeinsamkeit bleibt, dass sie das immaterielle kulturelle Erbe des Rheinlands zeigen, dass Alltagskultur in bestimmten Zeitschnitten, spezifischen Räumen und sozialen Konfigurationen gezeigt und für Wissenschaftler*innen und interessierte Öffentlichkeit erforschbar und erfahrbar gemacht wird. Die ethnographische Filmarbeit stellt seit Anfang der 1960er Jahre bis heute eine zentrale Aufgabe des LVR-ILR dar, womit dieses über ein Alleinstellungsmerkmal verfügt. Seit der Abwicklung des Instituts für den Wissenschaftlichen Film (IWF) in Göttingen ist es die einzige kulturwissenschaftliche Einrichtung, die systematisch das Medium Film zur Dokumentation und Forschungsarbeit im alltagskulturellen Bereich nutzt.
Literatur:
· Ballhaus, Edmund: Auf wissenschaftlichem Diskurs – Land in Sicht? Dörflicher Alltag im volkskundlichen Film. In: Becker, Siegfried/ Bimmer, Andreas C. (Hg.): Ländliche Kultur. Göttingen 1989, S. 150-185
· Bauer, Katrin/Graf, Andrea: Von „Bauernwerk“ und „Volksbrauch“ zu Menschen im Mittelpunkt. Filmische Alltagsdokumentation einer volkskundlichen Landesstelle. In: Näser, Torsten/ Paech, Frauke (Hrsg.): Kulturen. Film und audio-visuelle Anthropologie. Heft 2. Göttingen 2016. S. 91-98.
· Bauer, Katrin/Graf, Andrea: Wenn das Rheinland dokumentiert wird. Filmarbeit im LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte. In: Dies. (Hrsg.): Raumbilder-Raumklänge. Zur Aushandlung von Räumen in audiovisuellen Medien. Münster 2019. S. 153-167.
· Graf, Andrea: Lechenich auf 8mm. Die Kontextualisierung von filmischen Quellen als Nostalgiephänomen. In: Holfelder, Ute; Schönberger, Klaus (Hrsg.): Bewegtbilder und Alltagskultur(en). Von Super 8 über Video zum Handyfilm. Praktiken von Amateuren im Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung, Köln 2017, S. 274-290.
· Graf, Andrea: Filmen als landeskundliche Arbeit. Im Gespräch mit dem Kameramann Rainer Nagels. In: Alltag im Rheinland 2020, Sonderheft Landeskunde regional Bonn/Rhein-Sieg, S. 77-83.
· Hänel, Dagmar: Ist das Methode? Volkskundlicher Film und Feldforschung. In: Lauterbach, Burkhart (Hrsg.): Alltag Kultur Wissenschaft. 4. Jg 2017, S. 37-51.
· Landes- und volkskundliche Filmdokumentation. Katalog 89/90.
· Simons, Gabriel: Der Film als Mittel volkskundlicher Forschung. In: Rheinische Heimatpflege, n.F.II (1964). S. 15-29.