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Wohnkulturen

So vielschichtig und privat die unterschiedlichen Wohnformen auch sind, es gibt Gemeinsamkeiten im Wandel und in der Struktur. Prägend vor allem im 20. Jahrhundert sind soziale Repräsentation und individuelle Rückzugsmöglichkeiten, Grenzen und Entgrenzungen von Privatem und öffentlichem Raum. Wo die Funktionalität gesichert ist, treten andere Bedürfnisse in den Vordergrund.

Räume und ihre Nutzungen

Rekonstruierte Flurküche im Bandweberhaus im Museum, Lindlar 2010
Photo: Arendt, Stefan/LVR

Woh­nen fin­det in Räu­men statt. Ne­ben ei­nem Ort zum ge­mein­sa­men Ver­wei­len, der häu­fig auch zum Ko­chen ge­nutzt wur­de und wird, fin­den wir im­mer Or­te der Ru­he und Er­ho­lung. Was heu­te in Kü­che, Wohn­zim­mer und Schlaf­zim­mern nach Funk­tio­nen ge­trennt in ein­zel­nen Räu­men statt­fin­det, war noch bis weit ins 20. Jahr­hun­dert hin­ein oft in ei­nem Raum ver­eint: ge­ra­de die är­me­re Land­be­völ­ke­rung und die Ar­bei­te­rin­nen und Ar­bei­ter hat­ten häu­fig nur ein Zim­mer zur Ver­fü­gung, in dem ge­kocht, ge­ges­sen und ge­schla­fen wur­de – nicht sel­ten mit ei­ner gan­zen Fa­mi­lie.

Erst mit zu­neh­men­dem Wohl­stand dif­fe­ren­zier­ten sich die Zim­mer aus. So wa­ren et­wa ei­ge­ne Kin­der­zim­mer im 19. Jahr­hun­dert Kin­dern des wohl­ha­ben­den Bür­ger­tums vor­be­hal­ten. Auch das Ba­de­zim­mer als Raum der Kör­per­pfle­ge eta­blier­te sich erst nach dem Zwei­ten Welt­krieg mit Auf­kom­men der ent­spre­chen­den tech­ni­schen Vor­aus­set­zun­gen flä­chen­de­ckend. Doch auch bei be­grenz­ten räum­li­chen Ka­pa­zi­tä­ten hat­te sich be­reits ei­ne wich­ti­ge Funk­ti­on her­aus­ge­bil­det: je­ne der Re­prä­sen­ta­ti­on. Auch in klei­nen Woh­nun­gen und Häu­sern wur­de ei­ne gu­te Stu­be her­ge­rich­tet, die oft nur zu ho­hen Fei­er­ta­gen oder zum Emp­fang von Be­such ge­nutzt wur­de.

Möbel und Accessoires als Mittel sozialer Distinktion

Erst durch die Ein­rich­tung kommt die Funk­ti­on der Räu­me zu Tra­gen. Mö­bel wur­den vor der in­dus­tri­el­len Mas­sen­pro­duk­ti­on in der Re­gel für ein gan­zes Le­ben ge­kauft und nicht sel­ten über meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen ver­erbt. Da­bei war die Funk­tio­na­li­tät bei den meis­ten Mö­beln das kauf­ent­schei­den­de Kri­te­ri­um. Sie wur­den ge­nutzt und um­ge­nutzt, bis sie ka­putt wa­ren. Erst mit der kos­ten­güns­ti­gen Pro­duk­ti­on in in­dus­tri­el­ler Fer­ti­gung und der Nut­zung bil­li­ger Ar­beits­kraft aus an­de­ren Welt­tei­len wur­den Mö­bel stär­ker zu ei­nem Mo­dephä­no­men. Ne­ben prak­ti­schen As­pek­ten ste­hen sie heu­te für ei­nen Ein­rich­tungs­stil und sa­gen viel über die Be­woh­ne­rin­nen und Be­woh­ner aus. Noch mehr gilt die Selbst­dar­stel­lung und so­zia­le Ab­gren­zung für Klein­mö­bel und Woh­nac­ces­soires. Wer sich kei­nen neu­en Schrank leis­ten kann, der rich­tet sich mit neu­en De­ko­ra­ti­ons­ele­men­ten nach dem ei­ge­nen Ge­schmack ein: Zier­deck­chen, Lam­pen, Va­sen oder Wand­schmuck zeu­gen von der In­di­vi­dua­li­tät – auch wenn die­se oft nur schein­bar in­di­vi­du­ell ist, wa­ren doch sol­che Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de be­reits im 19. Jahr­hun­dert in­dus­tri­ell her­ge­stell­te Mas­sen­wa­re.

Mit dem Auf­kom­men der Un­ter­hal­tungs­in­dus­trie seit den 1920er Jah­ren ge­wan­nen Me­di­en­ge­rä­te wie Ra­dio, Fern­seh­ge­rät und Com­pu­ter als Wohn­ein­rich­tung zu­neh­mend an re­prä­sen­ta­ti­ver Be­deu­tung. Ein ei­ge­nes Ge­rät in der Woh­nung zeig­te nicht nur den ei­ge­nen tech­ni­schen Fort­schritt, son­dern ge­ra­de in den klei­nen Un­ter­schie­den – Grö­ße, Mar­ke, Auf­ma­chung – auch die so­zia­le Po­si­ti­on. Die Ein­rich­tung der Wohn­zim­mer ver­schob sich dem­entspre­chend und stell­te die Ge­rä­te zum Me­di­en­kon­sum zu­neh­mend in den Mit­tel­punkt des Rau­mes.

Wohnen und Arbeiten unter einem Dach?

Verbindung von Arbeit und Wohnen: in der Tenne, dem Zwischenraum von Gebäudeteilen, wird Flachs gedroschen. Hasselbach 1977
Photo: Schellack, Gustav/LVR

Was für Hand­wer­ker oder Land­wir­te selbst­ver­ständ­lich war, ver­lor im 20. Jahr­hun­dert an Be­deu­tung: die Ver­bin­dung von Ar­beit und Woh­nen im glei­chen Ge­bäu­de oder so­gar im glei­chen Zim­mer. Das Ver­lags­sys­tem hat­te Heim­ar­beit zur Re­gel ge­macht, Bau­ern oder ih­re Frau­en ver­dien­ten sich durch Auf­trags­ar­beit et­was zum land­wirt­schaft­li­chen Er­trag hin­zu. Doch mit der zu­neh­men­den Tech­ni­sie­rung und Spe­zia­li­sie­rung der Pro­duk­ti­on ver­lor die­ses Ar­bei­ten in den ei­ge­nen Wohn­räu­men an Be­deu­tung. Auch die land­wirt­schaft­li­chen Be­trie­be wur­den nach dem Zwei­ten Welt­krieg so groß, dass in der Re­gel ei­ge­ne Ge­bäu­de oft räum­lich ge­trennt von den Wohn­häu­sern für die Ar­beits­auf­ga­ben ent­stan­den.

Stär­ker als die Kon­zen­tra­ti­on der Funk­tio­nen un­ter ei­nem Dach sind heu­te Fra­gen der Ver­kehrs­an­bin­dung und Mo­bi­li­tät ent­schei­dend für die Wahl des Wohn­or­tes. Gleich­zei­tig be­steht ein ge­gen­tei­li­ger Trend: mit der Fle­xi­bi­li­sie­rung der Ar­beit geht auch ein wie­der grö­ße­rer Teil der Ar­bei­ten­den da­zu über, zu­min­dest ei­nen Teil der Auf­ga­ben zu­hau­se in ei­ge­nen Ar­beits­zim­mern zu er­le­di­gen. Mit der Durch­set­zung von com­pu­ter­ge­stütz­tem Ar­bei­ten in im­mer mehr Be­rufs­zwei­gen wird der In­ter­net­an­schluss zum Zu­gang zur Be­rufs­welt.

Schöne neue Wohnwelt?

Woh­nen im 20. Jahr­hun­dert hat sich in vie­len Be­rei­chen ge­wan­delt von ei­nem zweck­mä­ßi­gen, be­eng­ten Woh­nen hin zur Selbst­ver­wirk­li­chung in den ei­ge­nen vier Wän­den. Wohn­bio­gra­fi­en sind fle­xi­bler ge­wor­den, die Men­schen zie­hen häu­fi­ger um und auch die Woh­nungs­ein­rich­tung wird schnel­ler er­neu­ert als je­mals zu­vor. Da­bei wird je­doch oft ver­ges­sen, dass auch heu­te Men­schen in ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen woh­nen und le­ben müs­sen. Wer auf staat­li­che Un­ter­stüt­zung an­ge­wie­sen ist, ob als Flücht­ling, Ar­beits­lo­ser oder als chro­nisch Kran­ker, lebt oft be­engt und pro­vi­so­risch. Wohl­ha­ben­de hin­ge­gen ver­wirk­li­chen sich so­wohl in­ner- als auch au­ßer­halb der ei­ge­nen vier Wän­de in­di­vi­du­el­le Wunsch­vor­stel­lun­gen. Die so­zia­len Un­ter­schie­de sind ge­ra­de in die­sem Be­reich auf­fal­lend, auch wenn nur die Au­ßen­wän­de und Gär­ten für die Öf­fent­lich­keit sicht­bar sind.

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