Tischrituale zeigten und zeigen, dass Essen für den Menschen stets mehr bedeutet, als nur das Stillen seines Hungers. Sie sind Teile eines Regelwerks, das Essen zu einem sozialen Ereignis werden lässt.
Tischordnung als soziale Ordnung
Erinnerungen aus den Jahren 1900 bis 1980 von Zeitzeugen aus dem Rheinland zeigen, dass die Tischordnung Widerspiegelung und Sicherung der sozialen Ordnung sein kann. Dies verdeutlicht beispielsweise der Bericht von Käthe S. aus Linnich-Körrenzing: „Jeder hatte einen festen Platz, der von einem anderen Familienmitglied nicht eingenommen werden durfte.“ Maria F. aus Nieukerk bestätigt ebenfalls eine eindeutig hierarchische Sitzordnung bei Tisch, wie sie auch bei festlichen Anlässen üblich war: „Der Großvater blieb der ‚Partiarch‘ und saß obenan am Kopfende, an den Längsseiten rechts seine Frau, links sein Nachfolger, unser Vater. Nach Opas Tod bekam Vater diesen Platz. (…) Bei Festgemeinschaften wurden die Gäste nach Rang und Alter platziert, wir Kinder kamen dann ins Nebenzimmer.“ Die feinen Unterschiede bezüglich der Stellung zwischen Tischnachbarn markierten auch das Auftragen der Gerichte und das Zerteilen der Speisen. Denn das Tranchieren von Geflügel und Zerlegen von Schweinerippchen war nach zahlreichen Berichterstatterinnen und Berichterstattern Sache des Hausherrn. Die Reihenfolge beim Vorlegen bei Tisch und auch wer Brot oder Braten anschnitt, variiert nach Auskunft der Befragten. Manchmal waren es Mutter und Vater alleine, andernorts beide zusammen. Aus Nieukerk wird berichtet, dass gemäß der Rangordnung bei Tisch die Gerichte „ohne Schwierigkeiten der Reihe nach“ verteilt werden konnten. Die Regeln beim Verzehr des Essens, also beispielsweise die Benutzung von Besteck und Geschirr, haben sich ebenfalls geändert und befinden sich in zunehmender Auflösung.
Bedeutungswandel des Tischgebets
Hatte sich die Familie zu Tisch gesetzt, begann die Mahlzeit zumeist nicht ohne ein eröffnendes Gebet. Eine Schilderung der im Jahr 1912 geborenen Maria Z. aus Wassenberg-Onsbeck ist zeittypisch: gesprochen wurde das „Tischgebet vor und nach den Mahlzeiten, das im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung verloren hat, immer kürzer wird und ganz zu verschwinden droht“, wie Frau Z. befürchtet. Bei den Katholiken wurde - eingeleitet durch das Angelusleuten, dem morgendlichen, mittäglichen und abendlichen Läuten der Kirchglocken - der „Engel des Herrn“ gesprochen. Ein einfaches, weitverbreitetes Tischgebet in einer kürzeren Variante ist ebenfalls aus Wassenberg-Onsbeck überliefert: „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast – und segne was du uns bescheret hast. Amen.“ Zum Abschluss des Essens wurden ebenfalls einfache Verse gesprochen: „Gratias, wir danken Gott, dem Herrn. Denn er ist uns so freundlich. – Und seine Güte währet ewiglich. – Amen.“ Das Gebet in seiner laut gesprochenen Form stiftete nach der Überzeugung der Betenden nicht nur Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen, sondern stärkte auch die Speisegemeinschaft selbst – wenngleich auch nicht jedes Gebet tatsächlich aus tief empfundenem Glauben gesprochen wurde, sondern teilweise schlichtweg als Norm Akzeptanz fand. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde es im privaten und öffentlichen Raum immer üblicher, auf das Gebet zu verzichten und stattdessen das Essen damit zu eröffnen, sich einander einen „Guten Appetit“ oder Ähnliches zu wünschen. Gebete können in größeren Gruppen oder bei offiziellen Anlässen zu Irritationen führen, nachdem Religiosität im Zuge der Säkularisierung und Entkirchlichung im öffentlichen Raum an Bedeutung und Verbindlichkeit verloren hat.
Tischordnungen heute
Aus der Umfrage „Iss was!?“ zum Essverhalten Jugendlicher zeigt sich, dass ein gemeinsames Familienessen zu Beginn des 21. Jahrhunderts für acht von zehn Jugendlichen nur am Wochenende stattfand. Fast ein Drittel der Befragten bestätigte, dass zu diesen Gelegenheiten aufwendiger gekocht wurde als unter der Woche. Tischrituale – wie der strikte gemeinsame Beginn des Essens oder auch eine bestimmte Reihenfolge der Gänge - nahmen dabei alleine schon durch den größeren zeitlichen Rahmen und das kollektive Handeln eine zentralere Stellung ein. Dass Rituale verhandelbar und wandelbar sind, zeigt sich auch beim „einsamen Essen“, wie es unter der Woche für fast die Hälfte der Jugendlichen über 16 Jahre Realität war: zum Essen lief vielleicht die Lieblingsserie, wurde online Unterhaltung gesucht oder mit einem Freund telefoniert: die Freiheit, Regeln und Normen individuell für sich zu bestimmen geht mit einem Verlust von gemeinsamen Normen und Werten einher.