Die Ausdifferenzierung des Schneiderhandwerks fiel aufgrund der bestehenden textilverarbeitenden Industrien im Rheinland auf fruchtbaren Boden, der bis heute Bestand hat.
Vom Wanderhändler zur Maßschneiderei
Kaum ein Handwerk wurde so lange so deutlich als weiblicher Beruf angesehen wie das Schneiderhandwerk. Und dennoch war es gerade der von Männern betriebene Wanderhandel, der auch im Schneiderhandwerk in den ländlichen Regionen verbreitet war. Bis in das 20. Jahrhundert hinein zogen die nicht in Zünften zusammengeschlossenem Dorfschneider – etwa aus den Eifelregionen – als wandernde Gesellen in die Städte, um dort Aufträge einzuholen.
Die Arbeit der Schneiderei bestand aus mehr als nur dem eigentlichen Nähen: Ein korrektes Maßnehmen und Zuschneiden, das sachgemäße Nähen des Kleidungsstückes und nicht zuletzt modische und praktische Gesichtspunkte des Schnittmusters waren entscheidende Kriterien des Schneiderhandwerks. Eine optimal auf die zu bekleidende Person zugeschnittene Passform und ein Kleidungsstück, in dem sich der Träger oder die Trägerin wohl und gut angezogen fühlte, waren neben der zweckmäßigen handwerklichen Ausführung entscheidend für die Kundenzufriedenheit. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden alle Näharbeiten von Hand erledigt, so dass die Arbeiten aufwendiger waren und ein hohes Maß an Genauigkeit notwendig war, um ansehnliche Kleidungsstücke herstellen zu können.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts differenzierte sich das Schneiderhandwerk aus. Während die Dorfschneider immer weniger Aufträge als Hausierer erhielten, erweiterte sich das Tätigkeitsfeld der inhabergeführten Betriebe zum einen in diejenigen, die sich auf die Herstellung maßgeschneiderter Kleidungsstücke spezialisierten und zum anderen in die größere Zahl derjenigen, die hauptsächlich Änderungsarbeiten übernahmen. Nähen blieb dabei eine Tätigkeit, die bis in die 1950er Jahre noch die meisten Mädchen und Frauen beherrschten und selbst erledigen konnten und die im häuslichen Bereich eindeutig als spezifische Frauenarbeit angesehen wurde. Wirtschaftlich war dies zumeist notwendig, denn ein Auftrag an den Schneider oder die Schneiderin kostete Geld und wurde vermieden, wenn die Reparatur selbst erledigt werden konnte.
Berufe im Schneiderhandwerk
Mit Erfindung und Verbreitung der Nähmaschine im 19. Jahrhundert änderte sich das Schneiderhandwerk. Nun musste nicht mehr jede einzelne Naht in langer Kleinstarbeit erstellt werden, sondern die Maschine übernahm diesen Arbeitsschritt. Es konnten damit nun in wenigen Handgriffen schwierigere Dinge genäht werden, für die es vorher ein hohes Maß an Geschick und Übung erfordert hätte. Schon um 1900 waren Nähmaschinen nicht nur im gewerblichen Bereich verbreitet, sondern auch in wohlhabenderen Privathaushalten wurden die Geräte angeschafft.
Die Herstellung von Bettwäsche, Tischwäsche, Servietten und anderer Utensilien, die zuvor von Wäscheschneiderinnen produziert wurden, übernahmen mit zunehmender Industrialisierung in der Regel Näherinnen in den Fabriken. Die Näherinnen der Industriebetriebe waren zumeist ungelernte Schulabgängerinnen, die ihr Aufgabenfeld erst am jeweils zugeteilten Arbeitsplatz kennenlernten. Der Beruf des sich auf Wartung, Instandsetzung und Neukonzeption von Nähmaschinen spezialisierten Mechanikers war besonders nach den Weltkriegen von großer Bedeutung, da die Mechaniker die Nähmaschinen wieder gebrauchsfertig machten und somit flächendeckend sowohl im gewerblichen als auch im privaten Bereich notwendig waren.
Zulieferindustrie
Weder die textilverarbeitende Bekleidungsindustrie, noch die gewerblichen oder privaten Schneiderinnen und Näherinnen kamen ohne Handwerks- und Industriezweige aus, die Materialien produzierten und lieferten. Stoffe, Garne, Gummibänder, Knöpfe, Reißverschlüsse und vieles mehr waren zur Verarbeitung, zur Verwendbarkeit oder zum Schmuck der Kleidungsstücke erforderlich. Eine Vielzahl dieser Kurzwarenartikel oder gar der originären Materialien wurden direkt im Rheinland hergestellt. Beispielsweise waren die Knopf-, Besatzartikel-, Flecht-, Gummiband- und Webwarenherstellung besonders im Bergischen Land verbreitet. Hier entwickelte sich aus den handwerklichen Betrieben ebenfalls eine zunehmend industrialisierte Textilindustrie. Und dennoch: das Schneiderwesen war nicht auf einzelne Regionen begrenzt, vielmehr befand sich mindestens in der ersten Jahrhunderthälfte in nahezu jedem Haushalt eine kompetente, wenngleich unprofessionelle Schneiderin.
Weiterführende Literatur
Döring, Alois: Von Kleidern und Menschen. Kleidungsgewohnheiten an Rhein und Mass im 19. und 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 1999.
König, Gudrun M.: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900. Wien u.a. 2009.
Krötz, Werner: Die Industriestadt Wuppertal (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Beiheft IV/1; Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, XII. Abteilung 1 b Neue Folge). Köln 1982.