Welche Nahrungsmittel verwendet, wie sie serviert werden, zu welchem Anlass sie bereitet und nicht zuletzt wie die fertige Mahlzeit bezeichnet wird, ist nicht nur abhängig vom individuellen Geschmack, sondern auch von sozialer Gruppe, Region und Zeit.
Geschmack ist kulturell geprägt
„Je feiner organisiert ein Mensch ist, desto mehr wird er sich auch in seiner Ernährung feineren Genüssen zuwenden. Gut und schmackhaft zu kochen, um diesen Ansprüchen zu genügen, ist daher in der Tat eine Kunst, die erlernt und geübt sein will. (…) Was nun die Fassung der Rezepte anbetrifft, so ist das allgemein Anerkannte und Gute beibehalten worden, das Veraltete dagegen ausgeschaltet und den Anforderungen der Neuzeit in jeder Hinsicht Rechnung getragen.“ Das schrieb Henriette Davidis, eine der berühmtesten Kochbuchautorinnen des deutschsprachigen Raumes im 19. und 20. Jahrhundert, in der Einleitung zu ihrem Werk „Praktisches Kochbuch“. Das Buch erschien erstmals 1845 und wurde bis in die 1990er Jahre aktualisiert und nachgedruckt. Sie brachte damit bereits vor über 150 Jahren eine wichtige Tatsache auf den Punkt: Gerichte unterliegen einem ständigen Wandel. Nicht überall und zu allen Zeiten standen den Menschen das ganze Jahr alle Nahrungsmittel zur Verfügung, so wie es heute in Mitteleuropa der Fall ist. Natürlich gab es bereits vor Jahrhunderten einen weitverzweigten Handel mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln, doch waren diese in der Regel den Wohlhabenden vorbehalten. Die ländliche Bevölkerung dagegen war vom Lauf der Jahreszeiten und den kulturräumlichen Bedingungen abhängig. Man aß, was man selbst produziert und konserviert hatte, also was auf den eigenen Feldern gewachsen war. Mit der Industrialisierung begann auch im Rheinland der Konsum von Nahrungsmitteln aus der Massenproduktion. Man kann von einer regelrechten „Industrialisierung der Ernährung“ sprechen, die nach 1945 weiter an Fahrt aufnahm. Nach den Notjahren der Kriegs- und Nachkriegszeit war es plötzlich selbst im Winter möglich, Ananas und Pfirsiche zu essen – aus der maschinell produzierten Dose wurden diese luxuriösen Südfrüchte schnell für breite Bevölkerungsschichten erschwinglich. Die Suppe kam bald aus der Tüte oder man würzte sie mit „Liebigs Fleischextrakt“ und später mit „Maggi-Würze“. All diese Neuerungen veränderten die täglichen Speisezettel.
Wandel der Speisepläne
Mangel, Hunger und Rationierungen während der Weltkriege brachten die Menschen auf die Ideen für zahlreiche neue Gerichte und Getränke, z. B. „Muckefuck“ oder „vegetarische Schnitzel“ aus Sellerie oder Steckrüben. Zu Zeiten des Wirtschaftswunders gab es wieder Lebensmittel in Hülle und Fülle, die man sich zudem leisten konnte. Nach der entbehrungsreichen Kriegszeit war der Nachholbedarf der Menschen allerorts zu spüren. Eine wahre „Fresswelle“ begann und Buttercreme- und Sahnetorten waren in aller Munde. Die einsetzende Globalisierung führte zum wachsenden Einfluss der USA auf die Ernährung der Menschen: Hot Dogs, Hamburger und Cola hielten Einzug in die Speisepläne. Die zahlreichen Arbeitsmigrantinnen und -migranten brachten weitere neue Gerichte mit, und heutzutage sind Spaghetti, Döner und Gyros für viele Rheinländer alltäglicher als die stereotypen rheinischen Gerichte „Reibekuchen“, „Himmel un Äd“ oder „Rheinischer Sauerbraten“, wie die vor wenigen Jahren durchgeführte Umfrage „Iss was!?“ eindrucksvoll beweist.
Rheinische Küche?
Doch gibt es so etwas wie die „Rheinische Küche“ überhaupt? Nahrungsmittelproduzenten und Gastronomie betonen in den letzten Jahren verstärkt Regionalspezialitäten und Traditionsgerichte, und das nicht nur im Rheinland. Nahrungsforscherinnen und -forscher sehen darin meist eher ein Konstrukt: „Rheinischer Sauerbraten“, „Bergische Kaffeetafel“ und Co. seien reine Inszenierungen, die der Unterstreichung eines Lokalkolorits dienen sollen, das gelte vor allem für die Bezeichnungen. Sie spiegeln die Sehnsucht nach regionaler Identität wider, die in der globalisierten Welt oft verloren gegangen zu sein scheint. Natürlich hat man vor 100 Jahren noch „lokaler“ gekocht und gegessen und vermutlich stammen auch die Rezepte vieler heute als „typisch rheinisch“ vermarkteten Gerichte aus dieser Zeit, schließlich verfügte man rein theoretisch über die entsprechenden Zutaten. Doch faktisch gibt es weder Hinweise noch Erwähnungen des „Rheinischen Sauerbratens“ oder der „Bergischen Kaffeetafel“ in alten Kochbüchern oder handschriftlich festgehaltenen Rezepten aus dem Rheinland. Tatsächlich gibt es viele „rheinische“ Gerichte auch in anderen Regionen Deutschlands, wo sie z. T. ebenfalls als regionale Spezialitäten gehandelt werden, natürlich unter einer anderen Bezeichnung: „Reibekuchen“ sind beispielsweise auch als „Schnippelkuchen“, „Rösti“, „Döppekoche“, „Reiberdatschi“ oder „Kartoffelpuffer“ bekannt. Menschen im Rheinland nahmen die Gerichte noch in den 1980er Jahren ohnehin eher als Familientradition, denn als regionale Spezialitäten wahr, wie die Umfrage „Nahrung und Speise im Wandel nach 1900“ zeigte.
Globalisierung der Gerichte
Nicht nur die im Laufe des 20. Jahrhunderts ständig zunehmende Vielfalt an verfügbaren Zutaten und Rohstoffen sowie der im Zuge der Globalisierung gewachsene Einfluss anderer Kulturen haben die Gerichte verändert, auch die technischen Entwicklungen führten zu erheblichen Wandlungen. Kochte man im 19. Jahrhundert vielfach noch über dem offenen Feuer Eintopf- und Breigerichte, machte die Erfindung des Sparherdes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahezu allen sozialen Schichten die Zubereitung von Mahlzeiten aus mehreren Komponenten möglich. Jahrzehntelang war es daraufhin üblich, Gerichte aus drei Bestandteilen zuzubereiten: meist Fleisch oder Fisch mit Gemüse und einer Sättigungsbeilage. Doch auch diese Gewohnheit befindet sich aktuell im Wandel. Immer mehr Menschen, vor allem Berufstätige, essen heute eher zwischendurch Fast Food oder konsumieren Fertiggerichte, anstatt selbst zu kochen. Parallel findet aber auch eine Umorientierung und Rückbesinnung statt, zum Beispiel auf jahreszeitlich verfügbare Lebensmittel aus der Region und Rohstoffe aus ökologischer Landwirtschaft.
Weiterführende Literatur
Heizmann, Berthold: Von Apfelkraut bis Zimtschnecke. Das Lexikon der rheinischen Küche. Köln 2011.
Hirschfelder, Gunther: Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute. Frankfurt a.M./New York 2001 [Studienausgabe 2005].
LVR-Amt für rheinische Landeskunde (ARL) (Hg.): Iss was!? - Kijken in de keuken van de buur. Essen und Trinken von rheinischen und limburgischen Jugendlichen. Bonn 2003.
Teuteberg, Hans Jürgen; Wiegelmann, Günter: Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung. Göttingen 1972.
Teuteberg, Hans Jürgen; Wiegelmann, Günter (Hg.): Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung (Studien zur Geschichte des Alltags, Band 6). Münster 1986.