Die Industrialisierung war Auslöser für weitreichende gesellschaftliche Veränderungen. Vor allem im täglichen Leben der Arbeiterinnen und Arbeiter vollzog sich ein deutlicher Wandel. Ihre Lebensverhältnisse und Vorstellungswelten, aber auch Probleme und Bedürfnisse spiegeln sich in ihrer Wohnkultur wider.
Wohnungsmangel und der Bau von Arbeiterhäusern
Mit der rasanten Zunahme von Fabriken zogen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr Menschen in die Industriezentren auf der Suche nach Arbeit. Die Landflucht und die steigende Geburtenrate ließen die Einwohnerzahlen der Städte in die Höhe schnellen. Der vorhandene Wohnraum reichte bald nicht mehr aus. Die Folge war, dass Arbeiterfamilien häufig zur Untermiete wohnen und sich den engen Raum mit anderen teilen mussten. Im LVR-Freilichtmuseum Lindlar befindet sich ein Kleinstwohnhaus aus Hilden, das die Wohnsituation einer Fabrikarbeiterfamilie darstellt. Das Gebäude verfügt nur über 40 Quadratmeter Wohnfläche. Zwischen 1874 und 1881 lebten dort das Vermieterehepaar und eine achtköpfige Arbeiterfamilie unter einem Dach. Die Überbelegung und die schlechten hygienischen Zustände der Wohnungen lösten Ende des 19. Jahrhunderts eine politische Diskussion über die Lebensbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter aus. Man sah sich zum Handeln gezwungen und startete die ersten Bauprojekte. Vielerorts entstanden ganze Arbeitersiedlungen, vor allem in der Nähe von Zechen und Fabriken. Dabei existierten unterschiedliche Bauweisen und Finanzierungsansätze. Zum einen initiierten die Städte und Gemeinden neue Bauprojekte, zum anderen gründeten sich gemeinnützige Baugesellschaften. In Barmen etwa, das heute zu Wuppertal gehört, gründete eine Bürgerinitiative 1872 die „Barmer Baugesellschaft für Arbeiterwohnungen“. Häufig bauten auch die Unternehmen Häuser und Werkssiedlungen, die sie dann an ihre Arbeiterschaft vermieteten. Durch diese speziell für die Arbeiterschaft geplanten Gebäude ergab sich eine ganz eigene Wohnform. Charakteristisch für das Ruhrgebiet war zum Beispiel die Kleinhausbauweise, die mit Nutzgarten und Kleintierhaltung an ländliche Wohnformen anknüpften und zudem die Selbstversorgung sicherten. In Städten mit stärkerem Platzmangel entstanden stattdessen große Mehrparteienhäuser.
Raumnutzungen und Einrichtungen in Arbeiterwohnungen
Die Raumaufteilung hing von der Größe der Wohnung ab. Eine Arbeiterwohnung sah üblicherweise eine Küche und ein bis zwei Schlafkammern vor. In Berlin gab es aber auch viele Einzimmerwohnungen. Die Räume zeichneten sich vor allem durch ihre Funktionalität aus. Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre waren nicht vorgesehen. In der Küche wurde die Hausarbeit erledigt und die Mahlzeiten eingenommen. Als einziger beheizter Raum war sie Hauptaufenthaltsort eines Hauses. Die Schlafzimmer mussten sich die Familienmitglieder teilen, Kinderzimmer gab es nicht. Wohnzimmer waren zunächst nur in bürgerlichen Wohnhäusern verbreitet. Sie hatten einen repräsentativen Zweck und wurden mit den besten Möbeln ausgestattet. Ab etwa 1870 fand die gute Stube auch Einzug in Arbeiterwohnungen. Dieser besondere Raum, der nur zu wichtigen Anlässen benutzt wurde, bildete das Gegenstück zur Küche. Doch in vielen Haushalten war so eine Raumtrennung nicht möglich. Die zusätzliche Wohnfläche nutzte man auch für die Heimarbeit oder als Schlafplatz. Die Einrichtung von Arbeiterwohnungen bestand häufig aus zusammengetragenen und geerbten Möbelstücken. Das änderte sich durch das Aufkommen industriell hergestellter Möbel Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Folge war eine einheitlichere Möblierung. Die bürgerliche Wohnkultur beeinflusste dabei maßgeblich Form und Stil. Eine weitere Veränderung folgte ab den 1920er Jahren, als die meisten städtischen Haushalte an das Stromnetz angeschlossen wurden. Allerdings brachte die Elektrifizierung zunächst nur die Beleuchtung, nicht aber den Betrieb elektrischer Küchengeräte mit sich. Etwa zur selben Zeit kamen auch Wasseranschlüsse dazu.
Die Wohnsituation von der Nachkriegszeit bis heute
Eine zweite unvergleichlich größere Wohnungsnot erlebten die Menschen durch die Zerstörung von Wohnraum im Zweiten Weltkrieg. Insgesamt fehlten 1946 rund 5,5 Millionen Wohnungen. Daraufhin beschloss die Bundesregierung 1950 die Finanzierung von mehreren Millionen Wohnungen. Den Rest übernahmen private Investoren. Schon während des Wiederaufbaus erfuhr die deutsche Wirtschaft einen großen Aufschwung und der Bedarf an Arbeitskräften war höher denn je. Infolgedessen kamen 2,6 Millionen Menschen aus der Türkei, Spanien, Portugal oder Italien nach Deutschland. Obwohl sich die Wohnsituation in Deutschland mittlerweile verbessert hatte, profitierten die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in den wenig komfortablen Wohnheimen nicht davon. Die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften hielt bis in die 1970er Jahre an. Mit der Wirtschaftskrise 1973 und dem zunehmenden Rückgang der deutschen Industrie nahm die Anzahl der Beschäftigten jedoch wieder ab. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Wohnsituation der Arbeiterfamilien stark geändert. Viele alte Arbeitersiedlungen haben eine Umnutzung erfahren, wurden baulich verändert oder gar abgerissen. So manche Arbeitersiedlung steht mittlerweile als geschlossenes Bauensemble unter Denkmalschutz. Heute ist eine Überbelegung der Wohnungen selten geworden. Dennoch besteht in vielen Großstädten erneut Mangel an preiswerten Wohnraum, da die Mieten dort oft besonders hoch sind.