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Das Kochbuch der Margarethe Henn

Oder: wie man vor über 100 Jahren in der Eifel das Kochen lernte

Wie wurde das Kochen zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlernt, als es weder das Fernsehen, noch Radiosendungen, geschweige denn das Internet gab, und Kochbücher ein teures Vergnügen waren? Aufschluss darüber kann ein Zufallsfund geben, der sich als wertvolles Zeugnis zum Thema Kochen und Kochen lernen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts entpuppte: das handgeschriebene Kochbuch der Margarethe Henn.

Ein rätselhaftes Gruppenfoto

Gruppenfoto der Teilnehmerinnen der Wanderhaushaltungsschule in Nideggen-Wollersheim, 1911.

Der klei­ne Ort Nideg­gen-Wollers­heim liegt in der Nord­ei­fel und be­sitzt seit ei­ni­gen Jah­ren ei­nen Ge­schichts­ver­ein, in des­sen Hän­de ei­nes Ta­ges ei­ne Fo­to­gra­fie ge­lang­te. Die Auf­nah­me zeigt ei­ne Grup­pe von sieb­zehn jun­gen Frau­en in lan­gen Klei­dern und mit Hoch­steck­fri­su­ren, die ver­mu­ten las­sen, dass das Fo­to vor dem Ers­ten Welt­krieg auf­ge­nom­men wur­de. Wer wa­ren die Frau­en und wel­cher An­lass lag die­ser Grup­pen­auf­nah­me zu Grun­de? Ei­ne ers­te Ant­wort lie­fert die Bild­un­ter­schrift: „Koch­schu­le 1911 / Haus Mar­tin Lan­gen. Zehnt­hof Str. 62“.
Re­cher­chen er­ga­ben wei­te­re Puz­zle­stü­cke im Rät­sel um die Koch­schu­le, von der nie­mand mehr et­was ge­wusst hat­te. So fand man im Ge­schichts­ver­ein bei­spiels­wei­se her­aus, dass es sich bei den Teil­neh­me­rin­nen haupt­säch­lich um frisch ver­hei­ra­te­te Frau­en han­del­te, die im Kurs ler­nen soll­ten, selbst­stän­dig ei­nen Haus­halt zu füh­ren, Mahl­zei­ten zu­zu­be­rei­ten und da­bei die Aus­ga­ben zu über­wa­chen. Ein Ar­ti­kel in der Dü­re­ner Zei­tung vom Ju­li 1912 gab dar­über Auf­schluss, dass die Koch­schu­le in Wollers­heim ein ers­ter Ver­such ei­ner Kreis­wan­der­koch­schu­le sein soll­te. Sie fand un­ter dem Ti­tel „Haus­hal­tungs­schu­le“ auf An­re­gung des Land­ra­tes Kes­sel­kaul als acht­wö­chi­ger Kurs im Früh­ling 1911 statt und ver­lief der­art er­folg­reich, dass man im kom­men­den Jahr zwei wei­te­re Haus­hal­tungs­kur­se im Kreis Dü­ren - in El­len und Nideg­gen-Berg - an­bie­ten konn­te, die von zahl­rei­chen Teil­neh­me­rin­nen be­sucht wur­den.

Ein handgeschriebenes Kochbuch birgt spannende Erkenntnisse

Titelseite des Kochbuchs der Magarethe Henn von 1911.

Die Fo­to­gra­fie zeigt al­so die Teil­neh­me­rin­nen die­ses ers­ten Koch­kur­ses in Nideg­gen-Wollers­heim aus dem Früh­jahr 1911. Auch den Gro­ß­teil der Na­men der fo­to­gra­fier­ten Frau­en konn­ten die Mit­glie­der des Ge­schichts­ver­eins er­mit­teln. Bei ei­ner von ih­nen, Mar­ga­re­the Henn, han­del­te es sich zu­fäl­li­ger­wei­se um die Tan­te ei­nes Mit­glieds des Ge­schichts­ver­eins: Hans Henn. Die­ser konn­te im Fol­gen­den ein ganz be­son­de­res Do­ku­ment zur Er­for­schung der wei­te­ren Ge­schich­te des Wollers­hei­mer Koch­kur­ses bei­steu­ern: das hand­ge­schrie­be­ne Re­zept­buch sei­ner Tan­te, in dem sie akri­bisch und mit ge­nau­em Da­tum je­des im Kurs ge­koch­te Ge­richt fest­hielt.
Das Buch, des­sen Pa­pier in­zwi­schen ver­gilbt und ab­ge­sto­ßen ist, ging im Lau­fe des Zwei­ten Welt­krie­ges ver­lo­ren und wur­de erst Jahr­zehn­te spä­ter wie­der­ent­deckt. Das Wohn­haus der Fa­mi­lie er­litt im Krieg meh­re­re Gra­na­ten­ein­schlä­ge, der Dach­stuhl brach ein und das Buch lag meh­re­re Mo­na­te im Schutt. Beim Wie­der­auf­bau des Hau­ses stieß man zwar auf das Koch­buch, doch ließ es wei­ter­hin auf dem Dach­bo­den lie­gen. Herr Henn und sei­ne Frau fan­den es erst bei ei­nem Um­bau vor we­ni­gen Jah­ren wie­der. Der Ein­band fehlt in­zwi­schen, doch der In­halt ist - dank der säu­ber­li­chen Hand­schrift der ehe­ma­li­gen Be­sit­ze­rin - noch sehr gut les­bar. Mar­ga­re­the Henn, die ih­ren Na­men als „Henn Mar­ga­re­ta“ auf der Ti­tel­sei­te des Bu­ches no­tier­te, hielt auf 174 Sei­ten (hand­schrift­lich num­me­riert) zu­nächst Spei­sen­fol­gen, im­mer be­ste­hend aus Vor­spei­se, Haupt­mahl­zeit und Nach­spei­se, fest. Der ers­te Ein­trag stammt vom 5. April 1911, der letz­te vom 20. Ju­li 1911. Al­le Ge­rich­te sind mit den je­wei­li­gen Kos­ten für die be­nö­tig­ten Le­bens­mit­tel ver­se­hen. Im An­schluss folgt ein Teil mit nach Ka­te­go­ri­en sor­tier­ten Re­zep­ten, u. a. für Nach­spei­sen, Ku­chen und Sa­la­te. Am En­de des Bu­ches fin­det sich ein eben­falls nach Ka­te­go­ri­en ge­ord­ne­tes In­halts­ver­zeich­nis mit den Re­zep­ten und den je­wei­li­gen Sei­ten­zah­len.
Das Koch­buch stellt nicht nur ein sel­te­nes Do­ku­ment der Zeit­ge­schich­te dar, son­dern ist auch ei­ne rei­che Quel­le in Be­zug auf Zu­sam­men­set­zung und Kos­ten der Zu­ta­ten, die man zu die­ser Zeit in der Ei­fel kann­te, schätz­te und zu­be­rei­te­te. Ei­ni­ge Ge­rich­te über­ra­schen da­bei durch­aus und mu­ten für die Ei­fel ge­ra­de­zu exo­tisch an, z. B. die Re­zep­te für Ma­ka­ro­ni, Beef­steaks und Man­del­tor­te. An­hand der von der ehe­ma­li­gen Be­sit­ze­rin ein­ge­tra­ge­nen Da­tie­run­gen auf je­der Sei­te kann man ge­nau nach­voll­zie­hen, an wel­chem Tag im Kurs wel­che Ge­rich­te ge­kocht und in wel­cher Spei­sen­fol­ge sie mit­ein­an­der kom­bi­niert wur­den. So gab es bei­spiels­wei­se am 25. April 1911 Boh­nen­sup­pe als Vor­spei­se, Kar­tof­fel­ku­chen mit Sa­lat als Haupt­ge­richt und Man­del­tor­te zum Des­sert. Die Aus­la­gen für sechs Per­so­nen be­tru­gen 1,34 Mark. Am 11. Mai wur­den But­ter­mehl­sup­pe, Schin­ken­nu­deln und Schnee­bal­len-Crem zu­be­rei­tet, für die­se Ge­rich­te be­rech­ne­te Mar­ga­re­the Henn Aus­la­gen in Hö­he von 1,27 Mark.
In Zei­ten oh­ne Koch­shows im Fern­se­hen und In­ter­net­sei­ten, oh­ne Zeit­schrif­ten und Rat­ge­ber, wa­ren jun­ge Frau­en dar­auf an­ge­wie­sen, das Ko­chen von ih­ren Müt­tern oder Gro­ß­müt­tern zu ler­nen. Re­zep­te wur­den oft über meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen vor al­lem münd­lich wei­ter­ge­be­ben. Koch­bü­cher wa­ren nur für we­ni­ge Frau­en er­schwing­lich. Ge­ra­de auf dem Land, z. B. in der Ei­fel, gab es kei­ne fest ein­ge­rich­te­ten Haus­hal­tungs­schu­len, doch fand man auch auf den klei­ne­ren Dör­fern Mit­tel und We­ge, sich Wis­sen und Tech­ni­ken in die­sem Be­reich an­zu­eig­nen, die über die rein münd­li­che Wei­ter­ga­be in­ner­halb der Fa­mi­li­en- und Dorf­struk­tu­ren hin­aus­gin­gen, bei­spiels­wei­se in Form ei­ner Wan­der­koch­schu­le, die in ver­schie­de­nen Dör­fern ei­nes Krei­ses Koch- und Haus­hal­tungs­kur­se an­bot – so wie in Wollers­heim.

Von der Landwirtschaft zum Tante-Emma-Laden: die Familie Henn

Liste der Teilnehmerinnen des Wollersheimer Kochkurses 1911.

Herr Henn er­fuhr aus der Zei­tung vom „Por­tal All­tags­kul­tu­ren“ und kon­tak­tier­te das na­he ge­le­ge­ne LVR-Frei­licht­mu­se­um Kom­mern, um die Fo­to­gra­fie und das Koch­buch sei­ner Tan­te als Leih­ga­be zur Ver­fü­gung zu stel­len. Sie be­wohn­te, bis zu ih­rem Tod An­fang der 1980er Jah­re, das Wohn­haus der Fa­mi­lie in Wollers­heim, in dem Herr Henn noch heu­te mit sei­ner Frau lebt.
Ur­sprüng­lich be­saß die Fa­mi­lie Henn, wie fast je­de Fa­mi­lie in Wollers­heim, ei­nen klei­nen land­wirt­schaft­li­chen Be­trieb mit drei bis vier Kü­hen, ei­nem Pferd, Hüh­nern und we­ni­gen Schwei­nen. Die er­wirt­schaf­te­ten Gü­ter dien­ten haupt­säch­lich dem Ei­gen­be­darf, nur we­ni­ge Le­bens­mit­tel muss­ten zu­ge­kauft wer­den. Schon der Ur­gro­ßva­ter von Herrn Henn brann­te im Kel­ler sel­ber Schnaps, was bis weit über die Gren­zen des Dor­fes be­kannt war. So kehr­ten die Fuhr­män­ner der Ge­gend re­gel­mä­ßig bei der Fa­mi­lie Henn ein, um ei­nen „Fuhr­manns­hal­ven“ zu trin­ken. Als sich die Land­wirt­schaft im ers­ten Vier­tel des 20. Jahr­hun­derts zu­neh­mend we­ni­ger lohn­te und im­mer mehr klei­ne Be­trie­be auf­ge­ben muss­ten, be­schloss Mar­ga­re­the Henns Va­ter, den Be­trieb ab­zu­schaf­fen und statt­des­sen ei­nen klei­nen La­den im Erd­ge­schoss des Hau­ses ein­zu­rich­ten. Dort ver­kauf­te zu­nächst er selbst, spä­ter sei­ne Toch­ter Mar­ga­re­the Le­bens­mit­tel, Dro­ge­rie­ar­ti­kel, Tex­ti­li­en und an­de­re Din­ge des täg­li­chen Be­darfs.
Mar­ga­re­the Henn war zeit­le­bens un­ver­hei­ra­tet, was sie von den meis­ten an­de­ren Frau­en, die 1911 am Koch­kurs teil­ge­nom­men hat­ten, un­ter­schied. In­ter­es­san­ter­wei­se er­in­nert sich Herr Henn, dass sei­ne Tan­te nur sehr un­gern koch­te und sich stets mit im­mer wie­der neu­en Aus­re­den da­vor drück­te. Das ein­zi­ge Ge­richt, das Mar­ga­re­the Henn ger­ne für sich und auch die Nach­barn zu­be­rei­te­te - und das sich auch in ih­rem Koch­buch von 1911 wie­der­fin­det - wa­ren wei­ße Rüb­chen. Au­ßer­dem nahm sie für ih­ren La­den Hüh­ner und He­rin­ge aus und leg­te Letz­te­re in Fäs­ser ein. Dort be­saß sie auch ei­ne gro­ße Mag­gi-Fla­sche und gro­ße Töp­fe mit Zu­cker, Salz und Senf, aus de­nen sie für ih­re Kun­den klei­ne Men­gen in de­ren mit­ge­brach­te Ge­fä­ße ab­füll­te.

Schwarzbrotpudding mit Auszeichnung

Der Eintrag vom 21. April 1911 im Kochbuch der Margarethe Henn.

Frau Henn schick­te vor ei­ni­gen Jah­ren ein Re­zept aus dem Koch­buch der Tan­te - den Schwarz­brot­pud­ding - bei ei­nem Wett­be­werb ein und ge­wann da­mit ein Wo­chen­en­de in Gar­misch-Par­ten­kir­chen. Sie hat­te das Re­zept we­gen des merk­wür­di­gen Na­mens aus­ge­wählt, aus­pro­biert und das Er­geb­nis an die Nach­bar­schaft ver­teilt, die es für gut be­fand. Seit­dem wird sie im­mer wie­der nach die­sem Re­zept ge­fragt – die münd­li­che Über­lie­fe­rung funk­tio­niert al­so nach wie vor und Re­zep­te, die über 100 Jah­re alt sind, wer­den im­mer noch in Wollers­heim ge­nutzt.

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