Skip to main content

Der Einzug des Kinderzimmers im 20. Jahrhundert

Vom Privileg zur Selbstverständlichkeit

Erst mit den neu errichteten Wohnungen und Häusern der Nachkriegszeit wird das Kinderzimmer ein fester Bestandteil des Wohnraums. Mit der Zeit verschoben sich Fragen seiner Ausgestaltung und Funktion von den Erwachsenen hin zu den Kindern als Gestaltern.

Kindheit – eine junge Erscheinung

Kinderzimmer im Museum, rekonstruiert nach dem Anfang des 20. Jahrhunderts.
Photo: Arendt, Stefan/LVR

Ein ei­ge­ner Raum zum To­ben, mit viel Spiel­zeug und ei­nem ei­ge­nen Bett … für die al­ler­meis­ten Her­an­wach­sen­den war zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts die­ses Bild un­vor­stell­bar. Auf­grund der mit der Ur­ba­ni­sie­rung ver­bun­de­nen Woh­nungs­not ver­füg­ten die meis­ten Stadt­kin­der die­ser Zeit nicht ein­mal über ein ei­ge­nes Bett, ge­schwei­ge ei­nen ei­ge­nen Raum. Man­che Kin­der konn­ten sich be­reits mit ei­ner Spiel­ecke glück­lich schät­zen. Nur in die Vil­len und Häu­ser des gut si­tu­ier­ten Bür­ger­tums hat­te das Kin­der­zim­mer, wie et­wa in den Wohn­räu­men der Gast­stät­te Rö­mer, be­reits Ein­zug ge­hal­ten. In den städ­ti­schen Woh­nun­gen der Un­ter- und wei­ten Tei­len der Mit­tel­schicht soll­te es hin­ge­gen bis zur Mit­te des 20. Jahr­hun­derts eher ei­ne Sel­ten­heit blei­ben. Im länd­li­chen Raum wur­de der Kind­heit um 1900 noch gar kein ei­ge­ner Sta­tus zu­er­kannt. Viel­mehr gal­ten Kin­der als klei­ne Er­wach­se­ne. Sie muss­ten be­reits in sehr jun­gen Jah­ren ar­bei­ten und hat­ten nur we­nig Zeit um zu spie­len. Auch ein ei­ge­ner ab­ge­trenn­ter Wohn- und Schlaf­be­reich wur­de ih­nen oft­mals nicht zu­ge­spro­chen, höchs­tens in Form ei­ner klei­nen Kam­mer, in der al­le Ge­schwis­ter zu­sam­men schla­fen konn­ten.

Die Ausbreitung des Kinderzimmers in der Nachkriegszeit

Hochwertiger Kindertoilettenstuhl mit gepolstertem Sitz und verschließbarem Loch in der Sitzfläche, um 1910.
Photo: Coppens, Suzy/LVR

Erst in den neu er­rich­te­ten Woh­nun­gen der Nach­kriegs­zeit wur­de das Kin­der­zim­mer, wenn auch zu­nächst im klei­nen Maß­stab, lang­sam ein flä­chen­de­ckend in­te­gra­ler Be­stand­teil des Wohn­raums. Be­reits En­de der 1950er Jah­re ge­hör­ten zwei Kin­der­zim­mer zu ei­ner mit Hil­fe der öf­fent­li­chen Hand er­rich­te­ten „Nor­mal­woh­nun­g“ und mach­ten aus dem eins­ti­gen Pri­vi­leg ei­nen Stan­dar­d­raum. Die­sen Raum muss­ten sich Kin­der al­ler­dings häu­fig mit Ge­schwis­tern tei­len.

Die Rat­ge­ber­li­te­ra­tur die­ses Jahr­zehnts ver­deut­licht, dass das Kon­zept des Kin­der­zim­mers nicht pri­mär als Spie­l­oa­se an­ge­legt war. Viel­mehr soll­te es vor­ran­gig als Ent­las­tung der – im klas­si­schen Bild der Zeit – als Haus­frau an Heim und Herd ge­bun­de­nen Mut­ter die­nen, wo das Kind zu Ord­nung und Rein­lich­keit er­zo­gen wur­de. Zum ei­nen ver­füg­te das Kind jetzt über ei­nen klar de­fi­nier­ten Auf­ent­halts­raum und stör­te so nicht mehr beim Put­zen, Ko­chen und Wa­schen in an­de­ren Zim­mern des Hau­ses. Zum an­dern soll­ten die El­tern über die An­ord­nung und Aus­wahl des Mo­bi­li­ars ent­schei­den und das Kind zur gu­ten Pfle­ge sei­ner Mö­bel und sei­nes Spiel­zeugs an­hal­ten. Auch die Be­deu­tung des Kin­der­zim­mers als Ar­beits­raum wur­de stark her­vor­ge­ho­ben. Die Mö­bel­her­stel­ler re­agier­ten auf die neu­en Wohn­ver­hält­nis­se und brach­ten, ne­ben den we­ni­gen bis da­to ei­gens für Kin­der her­ge­stell­ten Mö­beln wie dem Kin­der­toi­let­ten­stuhl, neue Ein­rich­tungs­ob­jek­te für das Kin­der­zim­mer auf den Markt.

Kinder als Mitgestalter ab den 1970ern

Holzstuhl für Kinder, um 1900.
Photo: König, Sabine/LVR

Er­folg­te die Aus­ge­stal­tung der Kin­der­zim­mer zu­nächst vor al­lem aus Sicht der El­tern, spra­chen die Rat­ge­ber im Ver­lauf der 1970er Jah­re erst­mals das Kind selbst als Mit­ge­stal­ter sei­nes Raums an. Das än­der­te die Ein­rich­tung des Kin­der­zim­mers nach­hal­tig. Sei­ne Be­deu­tung als spiel­päd­ago­gi­sche Stät­te rück­te in den Vor­der­grund, zu­dem tra­ten ver­stärkt in­di­vi­du­el­le Zü­ge in der Aus­ge­stal­tung auf, die Vor­lie­ben und so­zio­kul­tu­rel­les Zu­ge­hö­rig­keits­ge­fühl zum Aus­druck brach­ten. Auch die Grö­ße der Räu­me nahm zu. Die kon­trol­lie­ren­de Prä­senz der El­tern im Kin­der­zim­mer nahm par­al­lel da­zu ab. Re­geln wur­den ver­mehrt mit den Kin­dern aus­ge­han­delt und im­mer sel­te­ner vor­ge­schrie­ben. Seit­dem liegt die Au­to­ri­tät über die Kin­der­zim­mer in vie­len Be­lan­gen in den ge­stal­ten­den Hän­den der sie be­woh­nen­den Mäd­chen und Jun­gen.

Weiterführende Literatur

Cars­ten­sen, Jan (Hrsg.): Zim­mer­wel­ten. Wie jun­ge Men­schen heu­te woh­nen. Es­sen 2000.

Zurück nach oben