Die Ausgestaltung des Platzes, an dem gegessen wird, sagt viel über die Wertsetzung der Mahlzeit und der sozialen Situation aus. Dekoration und das Anrichten von Speisen unterliegen dabei gesellschaftlichen Normen.
Eine Verlobung
1912 verlobten sich in Mönchengladbach-Odenkirchen die späteren Eheleute Josef Wäckers und Gertrud Feinendegen und luden aus diesem Anlass zu einem Festessen ein. Wo die Feier genau stattfand, ob in privaten Räumlichkeiten oder einem Restaurant, und wer geladen war, können wir heute nicht mehr rekonstruieren. Sicher erscheint aber, dass dem Termin hohe Bedeutung zugesprochen wurde, denn die gedeckte Tafel präsentierte sich festlich: Ein langes, weißes Tischtuch überdeckt den großen Tisch, an welchem mindestens zwanzig Personen Platz fanden. Geschliffene Weingläser auf dunklen Untersetzern, glänzendes Besteck für drei Gänge, weiße Stoffservietten – gerollt und mit einer Schleife versehen – stehen darauf. In der Mitte sind einige Topfpflanzen zu erkennen. Auch wenn uns der Kontext des Fotos – die Verlobung – unbekannt wäre, würde die heutige Betrachtende wohl auf einen feierlichen Anlass schließen, da uns die Attribute der Festlichkeit präsent und wohl vertraut sind.
Repräsentationsfunktion von Dekorationselementen
Der gedeckte Tisch wurde vor allem seit dem 19. Jahrhundert für bürgerliche Schichten zu einem Repräsentationsmedium, das von adeligen Vorbildern inspiriert war. Wertvolles Geschirr und eine ausgeprägte Tafelkultur trugen zur Inszenierung der sozialen Stellung bei. Im 20. Jahrhundert fand dann eine Normierung und Demokratisierung der (festlichen) Tischgestaltung statt, die nur kleinere modische Varianzen in Bezug auf Form, Gestalt und Anordnung enthält, nun aber für breitere Schichten zum Standard wurde. Maßgeblich zu dieser Standardisierung beigetragen haben Kochbücher, die häufig Kapitel zur „richtigen“ Tischgestaltung beinhalteten und so Normen und Konventionen transportieren. „Das beste bürgerliche Kochbuch“ von Emma Allestein aus dem Jahr 1930 enthielt etwa eine lange Anleitung zum „Tischdecken und Servieren“: „Hat man Gäste, muss man dem Tische eine besondere Sorgfalt widmen. Vor allem sorge man natürlich für tadellos saubere Tischwäsche, Geschirr und Silber“ heißt es darin. Tatsächlich scheinen sich diese Normierungen durchgesetzt zu haben. Rheinländerinnen und Rheinländer berichteten, dass um 1920 „an Festtagen besseres Porzellan, Silberbesteck und manchmal Kerzen und Blumenschmuck“ herausgeholt wurden und auch das Foto einer Hochzeitsgesellschaft von 1969 aus Köln zeigt einen ähnlichen gedeckten Tisch mit weißem Tischtuch, Besteck, Weingläsern, Servietten und Blumen in der Mitte. Heute werden gesellschaftliche Vorstellungen einerseits innerfamiliär tradiert, andererseits aber auch durch Medien transportiert. So heißt es 2014 auf der Homepage der Zeitschrift „Living at home“: „An einem Feiertag kann es nicht festlich genug zugehen. Da darf ein stimmungsvoll gedeckter Tisch natürlich nicht fehlen. Edles Geschirr erstrahlt im Kerzenlicht und harmoniert mit Gold und Rot.“
Dekoration unterscheidet Alltag und Festtag
Diese Betonung des Festlichen in der Umfrage „Nahrung und Speise im Wandel nach 1900“ und die genauen Anleitungen, wie ein festlich gedeckter Tisch auszusehen hat, impliziert aber auch, dass der Tisch im Alltag anders gedeckt war. Einfaches Geschirr, manchmal aus Zinn, nicht immer Besteck, nur selten eine Tischdecke und „Servietten nur bei besonderen Anlässen“ – so sah der gedeckte Tisch im Alltag Anfang des 20. Jahrhunderts aus. Die Einführung technischer Neuerungen wie der Spülmaschine in den 1960er Jahren, die Verbilligung von Porzellan durch Massenproduktion und die Verbreitung neuer Werkstoffe wie Plastik hatten bald starken Einfluss auf Esspraktiken und damit auch auf die Gestaltung des Esstisches. Auch gesellschaftliche Wandlungsprozesse wie Arbeitsstrukturen und -rhythmen oder die Veränderung von Ritualen und Brauchanlässen beeinflussen bis heute Tischdekorationen und die darin vermittelten Werte und Normen. Und heute? Über den gedeckten Alltagstisch wissen wir wenig, er ist zu alltäglich und deshalb oft nicht „wert“, fotografiert zu werden. Die Umfrage „Iss was!?“ von 2003 über das Essverhalten von Schülerinnen und Schülern zeigt, dass unter der Woche nur selten gemeinsame Mahlzeiten eingenommen werden und die Jugendlichen ihren Hunger eher zwischendurch stillen. Dies deutet darauf hin, dass sich durch das veränderte Essverhalten auch die Praxis ändert. Es werden vermehrt „to-go-Produkte“ konsumiert, bei denen der gedeckte Tisch keine Rolle mehr spielt. Gleichzeitig inszenieren Fernsehsendungen wie „Das perfekte Dinner“ oder Lifestyle-Zeitschriften auch heute den gedeckten Tisch und transportieren so gesellschaftliche Vorstellungen.