Jahrmärkte sind außeralltägliche Erlebnisorte, die ihren Besucher*innen ein buntes Unterhaltungsangebot bieten: Speise- und Getränkebuden prägen das Erscheinungsbild ebenso wie die unterschiedlichsten Fahrgeschäfte. Oftmals werden diese Märkte von einem ausdifferenzierten Brauchgeschehen gerahmt und begleitet und blicken auf eine lange Tradition zurück. Sie entwickelten sich aus jährlichen Märkten oder aber ihre Wurzeln liegen in kirchlichen Festen, etwa dem Patronatsfest der Ortskirchen. Den religiösen Bezug spiegelt noch heute das Wort „Kirmes“. Heute werden die Begriffe Jahrmarkt und Kirmes alltagssprachlich synonym verwendet. So auch in diesem Beitrag.
Der Duft von Zuckerwatte und Bratwurst, grell-bunte Lichter, Drehorgel und Diskorhythmen, Lachen und Lärm, das Gedränge und Geschiebe von Menschen, das Auf und Ab der Achterbahn. Geballte Sinneseindrücke prägen die Atmosphäre auf einem Jahrmarkt. Besucher*innen werden in eine glitzernde Erlebniswelt hineinkatapultiert, die ihnen eine Auszeit vom durchrationalisierten, entemotionalisierten Alltag bietet und zahlreiche Unterhaltungsangebote bereithält. Auch so manche Gegensätze werden hier vereint: Das nostalgische Kettenkarussell steht neben dem High-Tech-Fahrgeschäft; der oftmals kirchliche Ursprung des Geschehens, beispielsweise repräsentiert durch einen Gottesdienst, ist ebenso Teil der Veranstaltung wie ein ausgesprochen weltliches Vergnügen. Jahrmärkte sind außeralltägliche Erlebnisorte, die verschiedensten Bedürfnissen gerecht werden. Ob Adrenalinkick beim wilden Ritt auf dem neusten Fahrgeschäft, Zuckerrausch inmitten der kulinarischen Leckereien, Gemeinschaftserlebnisse mit der Freundesclique im Festzelt oder die romantische Runde im Riesenrad. Gerade die Freiheit, aus der prallen Vielfalt der Angebote zu wählen und den Jahrmarkt mit eigenen Erinnerungen und individuellen Ritualen zu verbinden, macht ihn für viele Menschen so attraktiv. Das Spektrum an Jahrmärkten im Rheinland ist breit und umfasst sowohl eine Großkirmes mit Millionenpublikum wie beispielsweise Pützchens Markt in Bonn oder die Düsseldorfer Rheinkirmes als auch kleinere Veranstaltungen, wie die Nettersheimer Kirmes. Da sich die Jahrmärkte oft aus den Kirchweihfesten der Ortskirchen entwickelt haben, können auch kleinere Ortschaften im ländlichen Raum mit „ihrer“ Kirmes aufwarten.

Greifarmautomat auf Pützchens Markt, 2016 Foto: Matthias Jung/LVR, CC BY 4.0

Plakat, das die Tönisberger Kirmes 2010 mit Mühlenfest inkl. Kirmesball und Frühschoppen bewirbt. Foto: Peter Weber/LVR, CC BY 4.0

Süßigkeiten-Stand auf Pützchens Markt 2009 Foto: Peter Weber/LVR, CC BY 4.0

Kirmesplatz in Nettersheim, 1967 Foto: Klaus Dittert/LVR, CC BY 4.0

Oberbürgermeister Ashok Sridharan eröffnet Pützchens Markt.
Foto: Matthias Jung/LVR, CC BY 4.0

Kirmesknochen in Nettersheim
Foto: Klaus Dittert/LVR, CC BY 4.0
All diese Veranstaltungen verbindet nicht nur ihre außeralltägliche Erlebnisqualität, sie werden meistens auch durch ein vielfältiges Brauchgeschehen gerahmt und begleitet. So markiert zum Beispiel ein Fassanstich durch das Stadtoberhaupt die offizielle Eröffnung eines Jahrmarkts, vielerorts haben sich Umzüge entwickelt oder Abschlussrituale wie das Vergraben eines Kirmesknochens oder ein Feuerwerk. Neben diesen institutionalisierten und offiziellen Bräuchen gibt es private Rituale, mit denen Besucher*innen den Jahrmarkt individuell gestalten und strukturieren und auf diese Weise vertraut und überschaubar machen. Der alljährliche Kirmesbesuch folgt daher häufig persönlichen Routen und Ritualen: Die Akteur*innen haben zum Beispiel feste Treffpunkte im Freundeskreis, der Besuch bevorzugter Buden und Fahrgeschäfte gehört zum Jahrmarktsbesuch ebenso dazu wie der Verzehr persönlicher Lieblingsspeisen. Jahrmärkte sind daher nicht nur für eine Stadt oder ein Dorf identitätsstiftende Ereignisse, sondern werden oft auch zu intergenerationellen Erinnerungsorten. Eltern oder Großeltern vermitteln narrativ oder performativ ihren Kindern oder Enkelkindern, was sie selbst als Kind erlebt und geliebt haben.
Kirchweihfest, Kirchmess, Kirmes
Die Geschichte der Jahrmärkte geht bis ins Mittelalter zurück, auch wenn freilich nicht jede einzelne Kirmes auf eine jahrhundertealte Historie zurückblicken kann. Viele Jahrmärkte haben ihre Wurzeln in den Patronatsfesten, die zu Ehren eines Heiligen, dem die Ortskirche geweiht war, abgehalten wurden oder in den Kirchweihfesten, mit denen an den Jahrestag der Weihe gedacht wurde. Die Patronatsfeste gehörten schon im Mittelalter zu den Hochfesten im Kirchenjahr. Der Zusammenhang des weltlichen Kirmesgeschehens mit der religiösen Feier spiegelt sich heute noch im Begriff „Kirmes“. Er geht auf das mittelhochdeutsche Wort „kirmesse“ zurück und bezeichnete ursprünglich die zum Kirchweihtag gelesene Messe. „Kirchweihmesse“ wurde sprachlich verkürzt zu „Kirmes“. An diesen hohen Kirch- und Heiligenfesten nahm die örtliche Bevölkerung teil, aber auch Menschen von außerhalb. Die Festgemeinschaft wollte nicht nur religiöse Rituale erleben, sondern auch unterhalten und versorgt werden, es gab Tanz, Musik, Spiele und sonstige Lustbarkeiten sowie besondere Speisen. Gaukler, Bettler, Artisten und Komödianten aller Art kamen an die Orte sowie Händler, die die unterschiedlichsten Waren anboten. Einige Jahrmärkte sind auch im Kontext von Wallfahrten entstanden, exemplarisch sei hier auf die Annakirmes in Düren verwiesen, die sich im 16. Jahrhundert aus der Wallfahrt zum Annahaupt, einer Kopfreliquie der Heiligen Anna entwickelte. Oder aber auf Pützchens Markt in Bonn, der auf die Wallfahrt zur Heiligen Adelheid von Vilich zurückgeführt wird. Durch das große Pilgeraufkommen gewannen solche Feste im Laufe der Zeit überörtliche Bedeutung. Weitere Anlässe von Jahrmärkten können kirchliche Feiertage wie Pfingsten, Fronleichnam oder das Fest eines Stadtpatrons sein, aber auch profane Hintergründe, etwa Vieh- oder Krammärkte. Wieder andere Jahrmärkte entstanden im Zusammenhang mit Schützenfesten, zum Beispiel die Großkirmes zum Neusser Schützenfest.
Jahrmärkte boten früher nicht nur eine willkommene Abwechslung im Jahreslauf und einen Anlass zu feiern, sie hatten vielfältige ökonomische, soziale und kommunikative Funktionen. Händler brachten Waren, die sonst nicht ohne weiteres verfügbar waren, Nachrichten und der neuste Klatsch wurden ausgetauscht, darüber hinaus boten die Jahrmärkte auch eine gesellschaftlich akzeptierte Gelegenheit zum Anbandeln der Geschlechter – kurzum zur Brautschau. Bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts dienten Jahrmärkte auch dazu, Verwandtschaftsbeziehungen intensiv zu pflegen, weil anlässlich einer Kirmes die erweiterte Familie zusammenkam, man sich gegenseitig besuchte. Im Zuge eines umfassenden soziokulturellen Wandels, stärkerer Mobilität und eines ausdifferenzierten Freizeitangebots hat sich die Funktion von Jahrmärkten gewandelt. So sind zum Beispiel begleitende Märkte in den Hintergrund gerückt, weil die dort angebotenen Waren nicht mehr attraktiv waren oder sich längst andere Möglichkeiten des Einkaufs etabliert haben. Die Faszination des Jahrmarkts als außeralltäglicher Erlebnisraum mit seiner multioptionalen Alterität ist jedoch geblieben.

Augenwaschen am Brunnen der Heiligen Adelheidis. Pützchen 2016 Foto: Matthias Jung/LVR, CC BY 4.0

Der Pluutenmarkt, auf dem vorwiegend Kleidung und Haushaltswaren angeboten werden, erinnert an den Ursprung der Kirmes. Pützchen 2009 Foto: Peter Weber/LVR, CC BY 4.0

Am Kirmesmontag findet sich die Dorfgemeinschaft nach der Prozession auf dem Waldfriedhof ein. Nettersheim 1967 Foto: Klaus Dittert/LVR, CC BY 4.0

Prozession der Dorfbewohner*innen in Nettersheim am Kirmesmontag. 1967 Foto: Klaus Dittert/LVR, CC BY 4.0

Gruppenfoto aus Anlass des Festzugs zur Kirmes in Belchem (später abgebaggert), 1920
Literatur
Gabriele Dafft: Zwischen Gottesdienst und Geisterbahn. Pützchens Markt als Erinnerungsort und Erlebnisraum. In: Pützchens Markt. 650 Jahr in Bonn am Rhein, hrsg. v. Karl-Heinz Erdmann, Michael Faber, Bonn 2017, 193-206.
Alois Döring: Kirmes. Frühsommer bis Herbst, in: Rheinische Bräuche durch das Jahr, Köln 2006, 255-277.
Michael Faber: Lebendig seit Jahrhunderten: Volksfestkultur in Deutschland. In: Pützchens Markt. 650 Jahr in Bonn am Rhein, hrsg. v. Karl-Heinz Erdmann, Michael Faber, Bonn 2017, 7-10.
Leander Petzoldt: Volkstümliche Feste. Ein Führer zu Volksfesten, Märkten und Messen in Deutschland. München 1983.
Sascha Szabo: Kultur des Vergnügens. Kirmes und Freizeitparks – Schausteller und Fahrgeschäfte. Facetten nicht-alltäglicher Orte, Bielefeld 2009.
Sacha-Roger Szabo: Rausch und Rummel. Attraktionen auf Jahrmärkten und in den Vergnügungsparks. Eine soziologische Kulturgeschichte. Bielefeld 2006.