Wachsender Wohlstand, industrielle Massenproduktion von Lebensmitteln, sich wandelnde Arbeitswelten und eine globalisierte Wirtschaft veränderten die Essgewohnheiten der Menschen im Rheinland im 20. Jahrhundert tiefgreifend. Doch mit mehr Auswahlmöglichkeiten wuchs auch die Unsicherheit darüber, wie man sich „richtig“ ernährt.
Stellenwert einer bewussten Ernährung zu Beginn des Jahrhunderts
Wie gesund sind Kartoffeln oder Getreide? Wie viel Fett und Eiweiß sollte man täglich zu sich nehmen? Welches Gemüse hat besonders viele Vitamine? Mit solchen Fragen wird sich eine Familie im ländlichen Rheinland um 1910 vermutlich wenig beschäftigt haben – der Begriff „Vitamin“ etwa war zu dieser Zeit noch gar nicht erfunden. Was auf den Tisch kam, wurde vielerorts schlicht durch die Frage bestimmt, ob es sich auf dem heimischen Feld anbauen ließ. Daneben war vor allem wichtig, welche Gerichte viel Energie für die schwere Arbeit in der Landwirtschaft mit sich brachten. Gänzlich unbedeutend war die Frage nach einer gesunden Ernährung indes auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht. So berichtet eine Befragte auf einem Bauernhof am Niederrhein von drei wichtigsten Grundsätzen bezüglich des Essens in den 1930er Jahren: „es darf nicht viel kosten (….), es muß schnell gehen (…) und es muß gesund sein.“ Auch das Wissen um spezielle heilende Substanzen – insbesondere Kräuter, die für Tees gesammelt wurden - war zu dieser Zeit sehr ausgeprägt.
Wachsendes Bewusstsein für Inhaltsstoffe
Die Erkenntnisse in der Ernährungsforschung und darauf aufbauende Empfehlungen bewirkten, dass der Zusammenhang zwischen Ernährungsweise und Gesundheit stetig deutlicher ins Bewusstsein rückte und das Alltagsleben zunehmend beeinflusste. Dies zeigt ein Blick in Kochbücher, in denen dieser Zusammenhang über die Jahrzehnte immer mehr Raum einnahm. Doch wie wurden alltägliche Grundnahrungsmittel in Bezug auf die Gesundheit beurteilt? Wie sehr auch dies einem Wandel unterliegt, lässt sich exemplarisch an drei Inhaltsstoffen verdeutlichen. Vitamin C (Ascorbinsäure) konnte – im Zuge der Erforschung des Skorbuts – 1927 erstmals isoliert werden. Bereits kurze Zeit später wurde es in Massenproduktion hergestellt, von den Nationalsozialisten als Allheilmittel propagiert und dadurch schnell flächendeckend in Deutschland berühmt. Der Verzehr Vitamin C haltiger Erzeugnisse, allen voran Obst und Gemüse, aber auch von Nahrungsergänzungsmitteln – etwa in Form von Brausetabletten – hat sich zur Vorbeugung und Behandlung von Erkältungen und grippalen Infekten durchgesetzt. Erst zum Ende des 20. Jahrhunderts geriet der unumstößliche Glaube an die Wirkungskraft dieser künstlich zugeführten Zusatzstoffe, aber auch an den hohen Stellenwert des Vitamin C generell für die Gesundheit allmählich ins Wanken. Fettreiche Ernährung gilt heute als ungesund, doch war dies lange Zeit kein ernsthaft diskutiertes Thema, denn die Fette wurden für die körperliche Arbeit benötigt. Erst seit Ende der 1970er Jahre werden von verschiedenen staatlichen Fachinstituten Ernährungsempfehlungen veröffentlicht. Diese hatten nachhaltige Wirkung, wenn nicht zwingend auf die Ernährungsgewohnheiten selbst, so doch zumindest auf das vermeintliche Wissen darüber, was denn gesund sei. So wurde vor zu viel Fett gewarnt und in der Folge Fleisch in die „gesunde“ weiße und „ungesunde“ rote Farbe kategorisiert – mit der Konsequenz, dass der Anteil von Geflügel auf dem Speiseplan zunahm. Vor dem Hintergrund eines drastischen Anstiegs von Diabetes-Erkrankungen sowie neueren Erkenntnissen in der Krebsforschung kam es wissenschaftlich auch ganz allmählich zu einer Neubewertung von Kohlenhydraten, die sich aber nur langsam durchsetzt. So haben bei der Ernährungspyramide der DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) Obst und Gemüse erst nach der Jahrtausendwende die kohlenhydrathaltigen Lebensmittel als mengenmäßig größte Lebensmittelgruppe abgelöst.
Ratgeber und Institutionen verändern die Wahrnehmung
Nicht nur unabhängige Institute sondern auch die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Markt überschwemmenden Diätratgeber nehmen für sich in Anspruch, Hilfestellung für eine gesunde Ernährung zu bieten. Besonderen Einfluss hatte die 1972 nach ihrem US-amerikanischen Erfinder benannte „Atkins-Diät“ , deren Kern die Vermeidung von Kohlenhydraten ausmacht. Der Verzehr von Kartoffeln etwa – einer der meist verbreiteten und prominentesten Träger von Kohlenhydraten – hat auch im Rheinland im 20. Jahrhundert abgenommen. Das bestätigt die Umfrage „Nahrung und Speise im Wandel nach 1900“, bei der auffällig viele Befragte angaben, dass Bratkartoffeln zu Beginn des Jahrhunderts nicht nur ein alltäglicher Bestandteil des Abendessens war, sondern bereits zum Frühstück auf dem täglichen Speiseplan standen. Vergleichbare Antworten sind für die Ernährung in den 1980er Jahren nicht mehr zu erkennen. Die Umfrage „Iss was!?“ aus dem Jahr 2003 hat gezeigt, dass ein Viertel der Schülerinnen und Schüler im Rheinland sogar gar kein Frühstück zu sich nehmen. So sehr also das Thema gesunde Ernährung zunehmend an Bedeutung gewonnen haben mag, so evident ist es, dass auch zum Ende des 20. Jahrhunderts die eingangs gestellten Fragen keineswegs als abschließend beantwortet gelten können.