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Die Dame mit dem Krauttuch

Zur Entwicklung eines landwirtschaftlichen Betriebs im 20. Jahrhundert

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren, lassen sich an Hedwig W.s Leben und dem ihrer Familie die Veränderungen in der Landwirtschaft nachvollziehen, von denen viele kleine Höfe im ländlichen Raum betroffen waren.

Ein Hof zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Heurechen und Krauttuch, Kürten-Busch 1980
Foto: Gabriel Simons/LVR

1980 zeig­te die 75-Jäh­ri­ge Hed­wig W. als Haupt­dar­stel­le­rin des Do­ku­men­tar­films "Fut­ter­ho­len mit dem Kraut­tuch" ei­ne der Auf­ga­ben, für die sie als jun­ge Frau zu­stän­dig war. Sie stamm­te aus der klei­nen Ort­schaft Kür­ten-Busch im Ber­gi­schen Land, wo die meis­ten Be­woh­ner bis weit in die zwei­te Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts in der Land­wirt­schaft tä­tig wa­ren. Be­reits als Kind über­nahm Hed­wig W. Auf­ga­ben auf dem el­ter­li­chen Hof. Ne­ben der all­täg­li­chen Hil­fe muss­ten die Kin­der aus Land­wirts­fa­mi­li­en be­son­ders zur Ern­te­zeit, in ih­ren Som­mer­fe­ri­en, die an­fal­len­den Ar­bei­ten mit­tra­gen.

Selbstversorgung

Mit Gras gefülltes Krauttuch, Kürten-Busch 1980
Foto: Gabriel Simons/LVR

Wie vie­le der klei­nen Hö­fe der Ber­gi­schen Re­gi­on, be­saß auch der Hof von Fa­mi­lie W. als klein­bäu­er­li­cher Be­trieb bis in die 1930er Jah­re nie mehr als fünf Kü­he und vier Jung­tie­re so­wie zwei bis drei Mast­schwei­ne. Et­wa 20 Hüh­ner er­gänz­ten den Vieh­be­stand. An­de­re Fa­mi­li­en hiel­ten da­zu auch Ka­nin­chen oder Zie­gen. Die Tie­re dien­ten zur Selbst­ver­sor­gung mit Milch, Fleisch und Ei­ern. Über­schüs­se wur­den ver­kauft. Fa­mi­lie W. be­saß 30 Mor­gen Land (das ent­spricht et­wa sie­ben Hekt­ar), von de­nen zehn als Wei­de für das Milch­vieh dien­ten, wäh­rend sie zehn Mor­gen als Wie­se zur Heu­ge­win­nung für die Ver­sor­gung der Tie­re im Win­ter und die ver­blei­ben­den zehn als Acker­land nutz­te. Der Acker ver­sorg­te die Hof­be­woh­ner mit Kar­tof­feln, Rog­gen und Ha­fer, ei­ne für die Re­gi­on ty­pi­sche Nut­zung, da durch das raue Kli­ma an­de­re, an­spruchs­vol­le­re Ge­trei­de­sor­ten wie Wei­zen nicht ge­die­hen.

Zusätzliche Futterquellen

Hedwig W. und ihr Enkel beim Rücktransport des geschnittenen Grases zum Hof, Kürten-Busch 1980.
Foto: Gabriel Simons/LVR

Für die täg­li­che Füt­te­rung der Tie­re mit fri­schem Gras reich­te bei vie­len Klein­bau­ern je­doch die Wei­de nicht aus. Da­her war es im Som­mer üb­lich, zur Zu­füt­te­rung ge­mäh­tes Gras und an­de­re Grün­pflan­zen zu nut­zen, die an Hän­gen und Weg­rän­dern wuch­sen. Die­se Flä­chen konn­ten für land­wirt­schaft­li­che Zwe­cke nicht an­der­wei­tig ge­nutzt wer­den und die Nut­zungs­rech­te zur Fut­ter­ge­win­nung wur­den von der Ge­mein­de an die Bau­ern ver­pach­tet. Das Fut­ter­ho­len ge­hör­te zu Hed­wig W.s Auf­ga­ben, da ihr Mann auf ei­nem der grö­ße­ren Hö­fe der Nach­bar­schaft als Ta­ge­löh­ner be­schäf­tigt war, um den Le­bens­un­ter­halt der Fa­mi­lie zu si­chern. Doch auch in an­de­ren Fa­mi­li­en hol­ten die Frau­en das Gras. Zum Trans­port wur­de es in ein Tuch ein­ge­bun­den, das "Kraut­tuch", und auf dem Kopf oder über der Schul­ter in den Stall trans­por­tiert. Um ge­nü­gend Gras für die vier bis fünf Milch­kü­he so­wie ei­ni­ge Rin­der und Käl­ber zu sam­meln, muss­te Frau W. et­wa vier- bis fünf­mal täg­lich fri­sches Fut­ter ho­len. Dies war bei ei­ner Dau­er von ei­ner hal­ben Stun­de pro Gang ei­ne zeit­in­ten­si­ve Auf­ga­be, bei der die Frau­en oft von ei­nem ih­rer Kin­der un­ter­stützt wur­den. Die­se Vor­ge­hens­wei­se war in Kür­ten-Busch noch bis nach dem Zwei­ten Welt­krieg ver­brei­tet. In an­de­ren Or­ten wur­de auch die Kuh zum Gras ge­bracht statt das Gras zur Kuh: die Tie­re wur­den an den We­gen ent­lang "spa­zie­ren ge­führt", so dass sie sich ihr Fut­ter hier selbst su­chen konn­ten.

Strukturelle Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Der modernisierte Hof mit Wohnteil (links) und Stallanlagen, Kürten-Busch 1980
Foto: Gabriel Simons/LVR

Zur Zeit der Dreh­ar­bei­ten wa­ren sol­che und an­de­re schwe­ren ma­nu­el­len Tä­tig­kei­ten längst von Ma­schi­nen über­nom­men und der Hof an die nächs­te Ge­ne­ra­ti­on über­ge­ben wor­den. Hed­wig W.s Sohn Her­mann Jo­sef führ­te den Hof be­reits seit den 1960er Jah­ren. Der Ein­satz mo­der­ner Tech­nik er­laub­te ihm ei­nen Aus­bau und ei­ne Spe­zia­li­sie­rung auf Milch­vieh­hal­tung. Da im Ber­gi­schen Land auf­grund der Bo­den­ver­hält­nis­se und kli­ma­ti­schen Be­din­gun­gen Grün­land über Acker­land über­wiegt, kon­zen­trier­ten sich vie­le Hö­fe auf die Vieh­wirt­schaft. Dies wur­de ab den 1950er Jah­ren durch staat­li­che Sub­ven­ti­on in Form fest­ge­leg­ter Milch­prei­se ge­för­dert.
Der Be­stand der Fa­mi­lie W. war 1980 auf 25 Kü­he, 25 Jung­tie­re und 60 Mor­gen Land an­ge­wach­sen, von de­nen 30 von ei­nem Bau­ern zu­ge­pach­tet wur­den, der sei­nen Hof auf­ge­ge­ben hat­te. Her­mann Jo­sef W. ver­grö­ßer­te 1965 das ur­sprüng­lich En­de des 18. Jahr­hun­derts er­rich­te­te Stall­ge­bäu­de, in dem nun 30 Milch­kü­he und acht Rin­der Platz fan­den. Den Som­mer über leb­ten die Tie­re auf der Wei­de. Im Zu­ge der Mo­der­ni­sie­rung stat­te­te die Fa­mi­lie den Stall mit ei­ner Milch­kam­mer, Melk­ma­schi­ne, Milch­kühl­an­la­ge, au­to­ma­ti­schen Trän­ke und ei­nem über dem Stall lie­gen­den Ber­ge­raum für Heu und Stroh aus. Der Ein­satz mo­der­ner Ma­schi­nen er­mög­lich­te es, das ge­stie­ge­ne täg­li­che Ar­beits­pen­sum mit ei­ner ge­rin­ge­ren Per­so­nen­an­zahl zu er­le­di­gen.

Aufgabe des Hofes

Die Ein­füh­rung der Milch­quo­te, d.h. staat­lich fest­ge­setz­te Höchst­wer­te für die Milch­pro­duk­ti­on, mach­te der Fa­mi­lie W. je­doch zu schaf­fen. Die Prei­se für Milch blie­ben durch die staat­li­chen Re­ge­lun­gen sta­bil, die all­ge­mei­nen Le­bens­hal­tungs­kos­ten so­wie die Kos­ten für mo­der­ne Ma­schi­nen stie­gen je­doch kon­ti­nu­ier­lich. Um 1990 ent­schloss sich die Fa­mi­lie zur Auf­ga­be des Ho­fes, da die Er­trä­ge den Le­bens­un­ter­halt kaum noch si­chern konn­ten. Ei­ne wei­te­re Mo­der­ni­sie­rung zur Er­hö­hung der Pro­duk­ti­on hät­ten ho­he fi­nan­zi­el­le In­ves­ti­tio­nen er­for­dert, die je­doch nicht zwangs­läu­fig ei­nen Er­folg ga­ran­tiert hät­ten. Das Stall­ge­bäu­de ist ei­nem Wohn­haus für sechs Par­tei­en ge­wi­chen. Das al­te Wohn­haus blieb er­hal­ten und wird ver­mie­tet. Fa­mi­lie W. selbst be­wohnt ei­nen Teil des Neu­baus, der an mo­der­ne Le­bens­stan­dards an­ge­passt ist. Das zum Hof ge­hö­ren­de Land wur­de zu­nächst an an­de­re Land­wir­te ver­pach­tet und schlie­ß­lich ver­kauft.

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