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Von Laternenzug und Narrenkappe

Der 11.11.

Der 11. November ist schon in seiner numerischen Form ein auffälliges Datum: eine doppelte Elf, viermal hintereinander eine Eins. Von daher verwundert es eigentlich nicht, dass dieser Tag besonders gestaltet wird: die einen, vor allem Kinder, ziehen an diesem Tag bei Einbruch der Dunkelheit mit Laternen durch die Straßen, singen Lieder und „schnörzen“. Jugendliche und Erwachsene – beispielsweise in Köln – versammeln sich hingegen schon am Vormittag auf öffentlichen Plätzen und feiern ausgelassen. Es handelt sich hier um zwei ganz unterschiedliche Bräuche, die zeitlich auf den 11.11. fixiert sind: St. Martin und Karneval. Außer dem gemeinsamen Datum haben beide Bräuche auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun.

Vom Heiligentag zum Laternenumzug

Von Kindern gebastelte Martinslaternen, Bonn-Duisdorf 1983
Foto: Mangold, Josef/LVR

Mar­tin von Tours leb­te im 4. Jahr­hun­dert n. Chr. und zählt zu den wich­tigs­ten Hei­li­gen im christ­li­chen Eu­ro­pa. Sei­ne Le­bens­ge­schich­te in­iti­ier­te zahl­rei­che Le­gen­den und reg­te viel­fäl­ti­ge Bräu­che an: Mar­tin war der Sohn ei­nes rö­mi­schen Of­fi­ziers, mit 15 Jah­ren wur­de er Sol­dat der rö­mi­schen Ar­mee. Um 334 wur­de er in Ami­ens, im heu­ti­gen Frank­reich sta­tio­niert. Dort soll sich ein be­son­de­res Er­leb­nis zu­ge­tra­gen ha­ben: An ei­nem kal­ten Win­ter­abend be­geg­ne­te dem rö­mi­schen Sol­da­ten Mar­tin ein Bett­ler, der nur mit Lum­pen be­klei­det war. Mar­tin hat­te Mit­leid und teil­te sei­nen Um­hang mit dem Bett­ler. In der Nacht soll Mar­tin dar­auf­hin Chris­tus im Traum er­schie­nen sein. Mar­tin ließ sich tau­fen, ver­ließ das Mi­li­tär und ging in ein Klos­ter, um Pries­ter zu wer­den. Als Bi­schof starb Mar­tin von Tours am 8. No­vem­ber 397, der Mar­tins­tag er­in­nert an sei­ne Bei­set­zung drei Ta­ge nach sei­nem Tod. Die Sze­ne des Man­tel­tei­lens, die sym­bo­li­scher Aus­druck christ­li­cher Wer­te wie Mit­leid, Un­ter­stüt­zung von Not­lei­den­den und So­li­da­ri­tät mit Schwä­che­ren ist, wird sze­nisch in den Mar­tin­s­zü­gen nach­ge­spielt und im Kin­der­lied be­sun­gen. Die be­son­de­re Fas­zi­na­ti­on die­ses Fes­tes liegt un­ter an­de­rem im La­ter­nen­zug, das Mar­tins­fest ist ei­nes der win­ter­li­chen Lich­ter­fes­te. Schon Wo­chen vor dem 11.11. be­gin­nen Kin­der in Grund­schu­len und Kin­der­gär­ten mit dem Bas­teln der Mar­tins­la­ter­nen.

Am 11.11. (oder an ei­nem Ter­min rund um die­ses Da­tum) tref­fen sich die Kin­der­grup­pen am Abend zum La­ter­nen­um­zug. Die­ser wird häu­fig an­ge­führt von ei­nem Mar­tins­dar­stel­ler zu Pferd, oft ist das Ziel des Um­zugs ein öf­fent­li­cher Platz, auf dem ein Mar­tins­feu­er ab­ge­brannt und die Man­tel­sze­ne der Mar­tins­ge­schich­te vor­ge­führt wird. Nach dem Um­zug ge­hen die Kin­der in klei­ne­ren Grup­pen durch die Stra­ßen und „schnör­zen“, d. h., sie klin­geln an den Haus­tü­ren, sin­gen ein Mar­tins­lied und er­bit­ten ei­ne Ga­be: Geld, Obst oder Sü­ßig­kei­ten. Die An­woh­ner zei­gen, dass sie die­sen Hei­sche­brauch ken­nen und et­was für die Kin­der vor­be­rei­tet ha­ben, in­dem sie Ker­zen ins Fens­ter stel­len. Die­ser Hei­sche­brauch ist vor al­lem im Köln-Bon­ner Raum und an der Ahr ver­brei­tet, am Nie­der­rhein kennt man ihn un­ter dem Na­men „kripp­schen“. Die­se bis heu­te be­kann­te Form des Mar­tins­fes­tes ent­stand um 1900, der ers­te in die­ser Form or­ga­ni­sier­te Mar­tins­zug fand 1890 in Düs­sel­dorf statt. Von dort ver­brei­te­te er sich schnell im gan­zen Rhein­land, zu­nächst im städ­ti­schen Raum, spä­tes­tens nach dem Zwei­ten Welt­krieg hat die­ser „ver­edel­te Kin­der­brauch“ auch in den länd­li­chen Re­gio­nen der Ei­fel und im Huns­rück die äl­te­ren Fest­for­men er­setzt.

Das „alte“ Martinsfest: karnevalesker Heischebrauch

Aufbauten für das Martinsfeuer. Die Junggesellen des Ortes bauen Holzgestelle, an denen Strohformen angebracht werden, die in der Martinsnacht angezündet werden. Ahrweiler 1988
Foto: Weber, Peter/LVR

Mar­tin ist Pa­tron der Win­zer, sein Ge­denk­tag passt gut in die jah­res­zeit­li­chen Ab­läu­fe der Wein­ern­te: An­fang No­vem­ber ist die Le­se ab­ge­schlos­sen, der jun­ge Wein zum Ver­kos­ten be­reit. Aber auch an­de­re Be­rei­che des land­wirt­schaft­li­chen Ar­beits­jah­res ha­ben ei­nen Be­zug zu die­sem Ter­min: Die Ern­te ist ein­ge­bracht, das vor­mo­der­ne Ar­beits­jahr en­de­te mit dem Schlach­ten zur Fleisch­ver­sor­gung für das Win­ter­halb­jahr. Das Ge­sin­de er­hielt sei­nen Lohn und wech­sel­te ge­ge­be­nen­falls den Ar­beit­ge­ber. Nach Ab­schluss der Ern­te wa­ren vie­ler­orts die Pacht und der Zins fäl­lig, die häu­fig in Na­tu­ra­li­en be­zahlt wur­den. Ei­ne über den Som­mer fett ge­mäs­te­te Gans war ver­brei­te­tes Zah­lungs­mit­tel, mit dem Bau­ern ih­re Pacht be­gli­chen und Geist­li­che oder Leh­rer ent­lohnt wur­den (s. da­zu auch Por­tal Ku­La­Dig). So ist die Mar­tins­gans seit dem 16. Jahr­hun­dert be­legt, er­wähnt wird in den Quel­len auch das Trin­ken und Sin­gen, Sankt Mar­tin wur­de aus­ge­las­sen ge­fei­ert. Der Grund da­für ist das nach dem Mar­tins­tag be­gin­nen­de Ad­vents­fas­ten: Eben­so wie Os­tern wur­de auch das Weih­nachts­fest durch ei­ne mehr­wö­chi­ge Fas­ten­zeit vor­be­rei­tet. Und so ent­wi­ckelt sich auch vor dem Ad­vents­fas­ten ei­ne Art Kar­ne­vals­fest, zu dem be­stimm­te Ele­men­te wie das Fest­mahl mit Fleisch, Fett und Ei­ern, Al­ko­hol­kon­sum, Tanz und Ge­sang ge­hör­ten.

Auch ein Hei­sche­brauch ge­hör­te zum „al­ten“ Mar­tins­fest: Vor al­lem männ­li­che Ju­gend­li­che zo­gen am Mar­tins­tag und -abend von Tür zu Tür und er­ba­ten Ga­ben: Ei­er, Speck, Al­ko­hol. Die­se wur­den ge­mein­sam beim Mar­tins­fest ver­zehrt, oft in Kom­bi­na­ti­on mit ei­nem Mar­tins­feu­er. Das Mar­tins­fest war kar­ne­val­esk ge­prägt: aus­ge­las­sen, derb und laut. Feu­er und La­ter­nen ge­hör­ten da­zu, schlie­ß­lich liegt das Fest in der dunk­len Zeit des Win­ter­halb­jah­res.

Ordnung und Kontrolle verändern das Brauchgeschehen

Martinsweck – ein Hefegebäck als Symbol des Teilens, Bonn-Duisdorf 1983
Foto: Mangold, Josef/LVR

Im Lau­fe des 18. Jahr­hun­derts wa­ren vie­ler­orts die Feu­er­bräu­che ver­bo­ten wor­den, so­wohl Kir­che als auch staat­li­che In­stan­zen pro­pa­gier­ten ganz im auf­ge­klär­ten Dis­kurs ih­rer Zeit ei­ne neue Ord­nung, in der kar­ne­val­es­ke Fes­te der Be­völ­ke­rung als ag­gres­siv, sub­ver­siv und al­tem Aber­glau­ben ver­haf­tet kri­ti­siert wur­den. Mit­tels ob­rig­keits­staat­li­cher Maß­nah­men soll­ten das Bet­teln und Prü­geln kon­trol­liert und ein­ge­dämmt wer­den. Im Lau­fe des 19. Jahr­hun­derts eta­blier­te sich dann in den Städ­ten, in­iti­iert vom ge­bil­de­ten Bür­ger­tum, das Mar­tins­fest als Kin­der­brauch mit dem bis heu­te be­kann­ten La­ter­nen­um­zug. Zeit­gleich wur­de von der­sel­ben bür­ger­li­chen Ak­teurs­grup­pe der vor­ös­ter­li­che Kar­ne­val in neu­er Form re­vi­ta­li­siert, auch die­se in Ver­ei­nen, Aus­schüs­sen und Sit­zun­gen kon­trol­lier­te Fest­form hat sich bis heu­te ge­hal­ten.

Der Elfte im Elften oder die Rückkehr des Karnevalesken

In den Weinbergen von Ahrweiler bauen die Junggesellenvereine gezimmerte Schaubilder auf, die Motive aus dem Vereinsleben zeigen. Sie werden am Samstag vor Sankt Martin als Martinsfeuer entzündet. Ahrweiler 1988.
Foto: Peter Weber/LVR/LVR

Wäh­rend die Kin­der im Rhein­land am Abend des 11.11. sin­gend mit ih­ren La­ter­nen durch die Stra­ßen zie­hen, hat so man­cher Ju­gend­li­che oder Er­wach­se­ne zeit­gleich Sehn­sucht nach dem Bett: Denn seit dem Vor­mit­tag, ge­nau­er seit 11 Uhr 11 fei­er­ten sie den Be­ginn der Kar­ne­vals­ses­si­on. Die­ser Kar­ne­vals­auf­takt liegt zum ei­nen in der Tra­di­ti­on des Mar­tins­ta­ges als Fest vor Be­ginn des Ad­vents­fas­tens be­grün­det. Zum an­de­ren aber be­kommt in der Neu­er­fin­dung des Kar­ne­vals im 19. Jahr­hun­dert die Zahl 11 ei­ne spe­zi­fi­sche Be­deu­tung zu­ge­wie­sen: Sie soll ein ver­schlüs­sel­ter Hin­weis auf das Mot­to der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on ega­lité – li­ber­té – fra­ter­nité: e – l – f sein, denn der Kar­ne­val im 19. Jahr­hun­dert war durch­aus im po­li­ti­schen Kon­text bür­ger­li­cher Frei­heits­be­stre­bun­gen kon­textua­li­siert. Zu­sätz­lich auf­ge­la­den wur­de die­se In­ter­pre­ta­ti­on mit tra­di­tio­nel­len zah­len­sym­bo­li­schen My­then: Die 11 galt wahl­wei­se als Zahl des Teu­fels, des Nar­ren oder des Welt­li­chen, denn sie über­schritt die gött­li­che Zahl 10 (10 Ge­bo­te, De­zi­mal­sys­tem) und war de­fi­zi­tär zur eben­falls gött­li­chen Zahl 12 (12 Apos­tel, 12 Mo­na­te, etc.). Da­mit wur­de der 11.11. zum per­fek­ten Tag für den Be­ginn der fünf­ten Jah­res­zeit.

Auch die Mar­tins­gans er­freut sich wei­ter­hin gro­ßer Be­liebt­heit. In Fa­mi­li­en, Freun­des­krei­sen aber auch zu­neh­mend als gas­tro­no­mi­sches Event wird das Gän­sees­sen als be­son­de­re, auch re­gio­nal de­fi­nier­te ku­li­na­ri­sche Be­son­der­heit ze­le­briert. Die ehe­ma­li­gen Zu­sam­men­hän­ge von Hei­li­gen­ver­eh­rung, jah­res­zeit­lich ge­präg­ten land­wirt­schaft­li­chen Ar­beits­struk­tu­ren und vor­mo­der­ner Fest­kul­tur sind weit­ge­hend ver­ges­sen.

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