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Mietskaserne, Reihenhaus oder Kleinstwohnung

Arbeiterwohnen im 20. Jahrhundert

Die Industrialisierung war Auslöser für weitreichende gesellschaftliche Veränderungen. Vor allem im täglichen Leben der Arbeiterinnen und Arbeiter vollzog sich ein deutlicher Wandel. Ihre Lebensverhältnisse und Vorstellungswelten, aber auch Probleme und Bedürfnisse spiegeln sich in ihrer Wohnkultur wider.

Wohnungsmangel und der Bau von Arbeiterhäusern

Arbeiterwohnhaus mit einer Gesamtwohnfläche von etwa 40 Quadratmetern am Originalstandort, Hilden 1990
Foto: Jan Carstensen/LVR

Mit der ra­san­ten Zu­nah­me von Fa­bri­ken zo­gen in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts im­mer mehr Men­schen in die In­dus­trie­zen­tren auf der Su­che nach Ar­beit. Die Land­flucht und die stei­gen­de Ge­bur­ten­ra­te lie­ßen die Ein­woh­ner­zah­len der Städ­te in die Hö­he schnel­len. Der vor­han­de­ne Wohn­raum reich­te bald nicht mehr aus. Die Fol­ge war, dass Ar­bei­ter­fa­mi­li­en häu­fig zur Un­ter­mie­te woh­nen und sich den en­gen Raum mit an­de­ren tei­len muss­ten. Im LVR-Frei­licht­mu­se­um Lind­lar be­fin­det sich ein Kleinst­wohn­haus aus Hil­den, das die Wohn­si­tua­ti­on ei­ner Fa­brik­ar­bei­ter­fa­mi­lie dar­stellt. Das Ge­bäu­de ver­fügt nur über 40 Qua­drat­me­ter Wohn­flä­che. Zwi­schen 1874 und 1881 leb­ten dort das Ver­mie­ter­ehe­paar und ei­ne acht­köp­fi­ge Ar­bei­ter­fa­mi­lie un­ter ei­nem Dach. Die Über­be­le­gung und die schlech­ten hy­gie­ni­schen Zu­stän­de der Woh­nun­gen lös­ten En­de des 19. Jahr­hun­derts ei­ne po­li­ti­sche Dis­kus­si­on über die Le­bens­be­din­gun­gen der Ar­bei­te­rin­nen und Ar­bei­ter aus. Man sah sich zum Han­deln ge­zwun­gen und star­te­te die ers­ten Bau­pro­jek­te. Vie­ler­orts ent­stan­den gan­ze Ar­bei­ter­sied­lun­gen, vor al­lem in der Nä­he von Ze­chen und Fa­bri­ken. Da­bei exis­tier­ten un­ter­schied­li­che Bau­wei­sen und Fi­nan­zie­rungs­an­sät­ze. Zum ei­nen in­iti­ier­ten die Städ­te und Ge­mein­den neue Bau­pro­jek­te, zum an­de­ren grün­de­ten sich ge­mein­nüt­zi­ge Bau­ge­sell­schaf­ten. In Bar­men et­wa, das heu­te zu Wup­per­tal ge­hört, grün­de­te ei­ne Bür­ger­initia­ti­ve 1872 die „Bar­mer Bau­ge­sell­schaft für Ar­bei­ter­woh­nun­gen“. Häu­fig bau­ten auch die Un­ter­neh­men Häu­ser und Werks­sied­lun­gen, die sie dann an ih­re Ar­bei­ter­schaft ver­mie­te­ten. Durch die­se spe­zi­ell für die Ar­bei­ter­schaft ge­plan­ten Ge­bäu­de er­gab sich ei­ne ganz ei­ge­ne Wohn­form. Cha­rak­te­ris­tisch für das Ruhr­ge­biet war zum Bei­spiel die Klein­haus­bau­wei­se, die mit Nutz­gar­ten und Klein­tier­hal­tung an länd­li­che Wohn­for­men an­knüpf­ten und zu­dem die Selbst­ver­sor­gung  ­si­cher­ten. In Städ­ten mit stär­ke­rem Platz­man­gel ent­stan­den statt­des­sen gro­ße Mehr­par­tei­en­häu­ser.

Raumnutzungen und Einrichtungen in Arbeiterwohnungen

Die Raum­auf­tei­lung hing von der Grö­ße der Woh­nung ab. Ei­ne Ar­bei­ter­woh­nung sah üb­li­cher­wei­se ei­ne Kü­che und ein bis zwei Schlaf­kam­mern vor. In Ber­lin gab es aber auch vie­le Ein­zim­mer­woh­nun­gen. Die Räu­me zeich­ne­ten sich vor al­lem durch ih­re Funk­tio­na­li­tät aus. Rück­zugs­mög­lich­kei­ten und Pri­vat­sphä­re wa­ren nicht vor­ge­se­hen. In der Kü­che wur­de die Haus­ar­beit er­le­digt und die Mahl­zei­ten ein­ge­nom­men. Als ein­zi­ger be­heiz­ter Raum war sie Haupt­auf­ent­halts­ort ei­nes Hau­ses. Die Schlaf­zim­mer muss­ten sich die Fa­mi­li­en­mit­glie­der tei­len, Kin­der­zim­mer gab es nicht. Wohn­zim­mer wa­ren zu­nächst nur in bür­ger­li­chen Wohn­häu­sern ver­brei­tet. Sie hat­ten ei­nen re­prä­sen­ta­ti­ven Zweck und wur­den mit den bes­ten Mö­beln aus­ge­stat­tet. Ab et­wa 1870 fand die gu­te Stu­be auch Ein­zug in Ar­bei­ter­woh­nun­gen. Die­ser be­son­de­re Raum, der nur zu wich­ti­gen An­läs­sen be­nutzt wur­de, bil­de­te das Ge­gen­stück zur Kü­che. Doch in vie­len Haus­hal­ten war so ei­ne Raum­tren­nung nicht mög­lich. Die zu­sätz­li­che Wohn­flä­che nutz­te man auch für die Heim­ar­beit oder als Schlaf­platz. Die Ein­rich­tung von Ar­bei­ter­woh­nun­gen be­stand häu­fig aus zu­sam­men­ge­tra­ge­nen und ge­erb­ten Mö­bel­stü­cken. Das än­der­te sich durch das Auf­kom­men in­dus­tri­ell her­ge­stell­ter Mö­bel An­fang des 20. Jahr­hun­derts. Die Fol­ge war ei­ne ein­heit­li­che­re Mö­blie­rung. Die bür­ger­li­che Wohn­kul­tur be­ein­fluss­te da­bei ma­ß­geb­lich Form und Stil. Ei­ne wei­te­re Ver­än­de­rung folg­te ab den 1920er Jah­ren, als die meis­ten städ­ti­schen Haus­hal­te an das Strom­netz an­ge­schlos­sen wur­den. Al­ler­dings brach­te die Elek­tri­fi­zie­rung zu­nächst nur die Be­leuch­tung, nicht aber den Be­trieb elek­tri­scher Kü­chen­ge­rä­te mit sich. Et­wa zur sel­ben Zeit ka­men auch Was­ser­an­schlüs­se da­zu.

Die Wohnsituation von der Nachkriegszeit bis heute

Zusammenleben auf engstem Raum in einer Flüchtlingsunterkunft. Titz-Opherten 2013.
Foto: Corinna Schirmer/LVR/LVR

Ei­ne zwei­te un­ver­gleich­lich grö­ße­re Woh­nungs­not er­leb­ten die Men­schen durch die Zer­stö­rung von Wohn­raum im Zwei­ten Welt­krieg. Ins­ge­samt fehl­ten 1946 rund 5,5 Mil­lio­nen Woh­nun­gen. Dar­auf­hin be­schloss die Bun­des­re­gie­rung 1950 die Fi­nan­zie­rung von meh­re­ren Mil­lio­nen Woh­nun­gen. Den Rest über­nah­men pri­va­te In­ves­to­ren. Schon wäh­rend des Wie­der­auf­baus er­fuhr die deut­sche Wirt­schaft ei­nen gro­ßen Auf­schwung und der Be­darf an Ar­beits­kräf­ten war hö­her denn je. In­fol­ge­des­sen ka­men 2,6 Mil­lio­nen Men­schen aus der Tür­kei, Spa­ni­en, Por­tu­gal oder Ita­li­en nach Deutsch­land. Ob­wohl sich die Wohn­si­tua­ti­on in Deutsch­land mitt­ler­wei­le ver­bes­sert hat­te, pro­fi­tier­ten die Gast­ar­bei­te­rin­nen und Gast­ar­bei­ter in den we­nig kom­for­ta­blen Wohn­hei­men nicht da­von. Die An­wer­bung von aus­län­di­schen Ar­beits­kräf­ten hielt bis in die 1970er Jah­re an. Mit der Wirt­schafts­kri­se 1973 und dem zu­neh­men­den Rück­gang der deut­schen In­dus­trie nahm die An­zahl der Be­schäf­tig­ten je­doch wie­der ab. Im Lau­fe der Jahr­zehn­te hat sich die Wohn­si­tua­ti­on der Ar­bei­ter­fa­mi­li­en stark ge­än­dert. Vie­le al­te Ar­bei­ter­sied­lun­gen ha­ben ei­ne Um­nut­zung er­fah­ren, wur­den bau­lich ver­än­dert oder gar ab­ge­ris­sen. So man­che Ar­bei­ter­sied­lung steht mitt­ler­wei­le als ge­schlos­se­nes Bau­en­sem­ble un­ter Denk­mal­schutz. Heu­te ist ei­ne Über­be­le­gung der Woh­nun­gen sel­ten ge­wor­den. Den­noch be­steht in vie­len Groß­städ­ten er­neut Man­gel an preis­wer­ten Wohn­raum, da die Mie­ten dort oft be­son­ders hoch sind.

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