Direkt zum Inhalt

Nierentisch, Popdesign und Eiche-Rustikal

Ungleichzeitigkeiten im Wohnen der Nachkriegszeit

Die in der Nachkriegszeit einsetzende Ausdifferenzierung der Gesellschaft führte erstmals zu einem breit gefächerten Nebeneinander von modernem Interieur und historisierendem Mobiliar.

Aufsatzschrank, 1929
Foto: Suzy Coppens/LVR

In den ers­ten Jah­ren nach 1945 war der Woh­nungs­markt durch zer­stör­te Häu­ser und Über­be­le­gung der noch vor­han­de­nen Un­ter­künf­te sehr an­ge­spannt. Um die de­so­la­ten Wohn­ver­hält­nis­se zu ver­bes­sern, wur­den von staat­li­cher Sei­te Bau­maß­nah­men be­schlos­sen, die ei­ne schnel­le Be­schaf­fung von Wohn­räu­men er­mög­li­chen soll­ten. Zwar konn­ten in der Fol­ge­zeit vie­le neue Wohn­kom­ple­xe er­rich­tet wer­den, al­ler­dings wa­ren die ers­ten dar­in er­rich­te­ten Woh­nun­gen sehr klein ge­schnit­ten. Die Mö­bel­her­stel­ler re­agier­ten auf die­se Si­tua­ti­on mit neu kon­stru­ier­tem, platz­spa­ren­dem und funk­tio­na­lem Mo­bi­li­ar. Zu­dem er­leb­ten äl­te­re Mö­bel ei­ne Re­nais­sance, wenn sie mul­ti­funk­tio­na­le Mög­lich­kei­ten be­sa­ßen, wie die Schrän­ke des iro­nisch so be­zeich­ne­ten „Gel­sen­kir­che­ner Ba­rocks“. Die seit den 1920er Jah­ren be­kann­ten, vor­nehm­lich in Ar­bei­ter­woh­nun­gen zu fin­den­den Vi­tri­nen­schrän­ke mit ih­ren viel­fäl­ti­gen und vor al­lem ab­ge­run­de­ten Ge­stal­tungs­ele­men­ten wur­den so­wohl als Wohn­zim­mer­schrank wie auch – we­gen ih­rer La­ge­rungs­mög­lich­kei­ten für Le­bens­mit­tel – als Kü­chen­schrank ge­nutzt.

Ungleichzeitigkeiten im Wirtschaftswunder

Cocktailsessel, 1950er Jahre
Foto: Gerhards, Hans-Theo/LVR

Durch das in den 1950er Jah­ren ein­set­zen­de so ge­nann­te Wirt­schafts­wun­der, das für er­heb­lich stei­gen­de Löh­ne und Ge­häl­ter bei wei­ten Tei­len der Be­völ­ke­rung sorg­te, bil­de­te sich ei­ne Dif­fe­ren­zie­rung und In­di­vi­dua­li­sie­rung der Ge­sell­schafts­struk­tur her­aus. Erst­mals konn­ten vie­le Fa­mi­li­en grö­ße­re fi­nan­zi­el­le Mit­tel für Mo­bi­li­ar auf­wen­den, wo­durch sich da­s Mö­bel­an­ge­bot er­wei­ter­te. Ers­te Kon­tras­tie­run­gen der Ein­rich­tungs­sti­le wa­ren die Fol­ge, Ne­ben tra­di­tio­nel­len Mö­bel­for­men aus Edel­höl­zern für das klein­bür­ger­li­che Woh­nen­sem­ble trat ein neu­er zeit­ge­nös­sisch-re­prä­sen­ta­ti­ver Ein­rich­tungs­stil mit ge­schwun­ge­nen plas­ti­schen Form­ge­bun­gen. Nie­ren- und Drei­ecks­ti­sche so­wie Cock­tail­ses­sel soll­ten die mo­der­ne Hal­tung ih­rer Be­sit­zer aus­drü­cken und wur­den für ei­ne ei­ge­ne, sich als -zeit­ge­mäß ge­ben­de Käu­fer­grup­pe ent­wi­ckelt.

Ungleichzeitigkeiten der Wohnstile

Aufeinander abgestimmte Wohnzimmergarnitur im „Neo-Chippendale“, Rekonstruktion im Museum, Kommern 2015
Foto: Gerhards, Hans-Theo/LVR

Schrank als Teil einer Wohnzimmereinrichtung im „Neo-Chippendale-Stil“, 1960er Jahre
Foto: Gerhards, Hans-Theo/LVR

Die fort­schrei­ten­de Aus­dif­fe­ren­zie­rung der Ge­sell­schaft ab den 1960er Jah­ren spie­gel­te sich im äu­ßerst kon­trä­ren Mö­bel­de­sign die­ses Jahr­zehnts deut­lich wi­der. In ei­nem bis da­hin un­be­kann­ten Aus­maß bot die ex­pan­die­ren­de Mö­bel­in­dus­trie ei­ne brei­te Pa­let­te von Mö­beln in un­ter­schied­lichs­ter Art und Aus­füh­rung an. So setz­te auf der ei­nen Sei­te in die­ser De­ka­de das Pop­de­sign mit sei­nen knal­li­gen Far­ben und Mus­tern und wei­chen For­men ein, auf der an­de­ren Sei­te ent­stand gleich­zei­tig ein Trend zu his­to­ri­schen Mö­bel­for­men. Opu­len­te Schrän­ke und Schrank­wän­de aus dunk­lem Holz, vo­lu­mi­nös plü­schi­ge Pols­te­run­gen mit flo­ra­len Mo­ti­ven und ge­schwun­ge­ne For­men, die an Vor­bil­der aus dem Neo­bie­der­mei­er und an den Chip­pen­da­le-Stil er­in­nern, fan­den Ein­gang in vie­le deut­sche Wohn­zim­mer.

Auch die zu­sam­men­ge­hö­ri­ge Wohn­zim­mer­gar­ni­tur der Fa­mi­lie Reinsch ver­mit­tel­te in den 1960er und 1970er Jah­ren ein Ge­fühl von längst ver­gan­gen ge­glaub­ter Ge­müt­lich­keit im trau­ten Heim. In ei­ner zu­neh­mend tech­ni­sier­ten und ra­tio­na­li­sier­ten Le­bens- und Ar­beits­welt wur­de so ein Stück „hei­le Welt“ in den ei­ge­nen vier Wän­den ge­schaf­fen, die als Rück­zugs- und Frei­zeit­raum im­mer be­deu­ten­der wur­den. So­gar nam­haf­te De­si­gner ent­war­fen an­hand al­ter Vor­bil­der ent­spre­chend his­to­ri­sie­ren­de Mö­bel, die sich sehr gut ver­kauf­ten. Das da­bei die Un­gleich­zei­tig­kei­ten von Wohn­sti­len auch in­ner­halb ei­ner ein­zi­gen Woh­nung auf­tre­ten konn­ten, zeigt sich eben­falls bei der Fa­mi­lie Reinsch, die ne­ben ih­rer his­to­ri­sie­ren­den Wohn­zim­mer­gar­ni­tur ei­ne da­mals hoch­mo­dern aus­ge­stat­te­te Ein­bau­kü­che in der Trend­far­be Co­lo­ra­do­gelb be­saß.

Auseinanderentwicklungen der Wohnstile

Schrank, 1950er Jahre
Foto: Hans-Theo Gerhards/LVR

Spä­tes­tens ab En­de der 1960er Jah­re kann nicht mehr von ei­nem cha­rak­te­ris­tisch vor­herr­schen­den Ein­rich­tungs­stil ge­spro­chen wer­den. So tra­ten z.B. ne­ben die be­reits er­wähn­ten For­men nun erst­mals rus­ti­ka­le Mö­bel aus dem skan­di­na­vi­schen Raum. Auch das Mi­schen von al­ten Mö­beln oder ein­zel­nen Mö­bel­ele­men­ten, oft­mals auf ei­nem Floh­markt er­wor­ben, bil­de­te sich als ei­ge­ner Stil her­aus. So be­steht heu­te ei­ne Viel­falt, die wie­der­um Un­gleich­zei­tig­kei­ten in ei­nem Wohn­raum ver­bin­den kann: ne­ben den ge­erb­ten oder ge­braucht ge­kauf­ten Stü­cken ste­hen neu an­ge­schaff­te, teils hoch­wer­ti­ge Mö­bel im glei­chen Zim­mer.

Weiterführende Literatur

Schmidt, Sas­kia: Der "Zwei­te His­to­ris­mus" - Alt­deut­sche Stil­mö­bel in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren. In: May, Her­bert ; Eig­mül­ler, Mi­chae­la (Hg.): Um­bruch­zeit. Die 1960er und 1970er Jah­re auf dem Land. Bad Winds­heim 2011, S. 239-249.

Zurück nach oben