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Servietten nur bei besonderen Anlässen

Tischdekoration und Tafelkultur

Die Ausgestaltung des Platzes, an dem gegessen wird, sagt viel über die Wertsetzung der Mahlzeit und der sozialen Situation aus. Dekoration und das Anrichten von Speisen unterliegen dabei gesellschaftlichen Normen.

Eine Verlobung

Festlich gedeckter Tisch mit weißer Tischdecke und Blumenschmuck zu einer Verlobung im Jahr 1912.
Foto: Wäckers, Richard W./LVR

1912 ver­lob­ten sich in Mön­chen­glad­bach-Oden­kir­chen die spä­te­ren Ehe­leu­te Jo­sef Wä­ckers und Ger­trud Fei­nen­de­gen und lu­den aus die­sem An­lass zu ei­nem Fest­es­sen ein. Wo die Fei­er ge­nau statt­fand, ob in pri­va­ten Räum­lich­kei­ten oder ei­nem Re­stau­rant, und wer ge­la­den war, kön­nen wir heu­te nicht mehr re­kon­stru­ie­ren. Si­cher er­scheint aber, dass dem Ter­min ho­he Be­deu­tung zu­ge­spro­chen wur­de, denn die ge­deck­te Ta­fel prä­sen­tier­te sich fest­lich: Ein lan­ges, wei­ßes Tisch­tuch über­deckt den gro­ßen Tisch, an wel­chem min­des­tens zwan­zig Per­so­nen Platz fan­den. Ge­schlif­fe­ne Wein­glä­ser auf dunk­len Un­ter­set­zern, glän­zen­des Be­steck für drei Gän­ge, wei­ße Stoff­ser­vi­et­ten – ge­rollt und mit ei­ner Schlei­fe ver­se­hen – ste­hen dar­auf. In der Mit­te sind ei­ni­ge Topf­pflan­zen zu er­ken­nen. Auch wenn uns der Kon­text des Fo­tos – die Ver­lo­bung – un­be­kannt wä­re, wür­de die heu­ti­ge Be­trach­ten­de wohl auf ei­nen fei­er­li­chen An­lass schlie­ßen, da uns die At­tri­bu­te der Fest­lich­keit prä­sent und wohl ver­traut sind.

Repräsentationsfunktion von Dekorationselementen

Festlich gedeckte Hochzeitstafel mit weißem Tischtuch und Blumen. Köln 1969.
Foto: Hack, Marianne/LVR

Servierschale als Geschenk zur Silberhochzeit, die auf festlichen Tafeln genutzt wurde. Um 1900.
Foto: Gerhards, Hans-Theo/LVR

Der ge­deck­te Tisch wur­de vor al­lem seit dem 19. Jahr­hun­dert für bür­ger­li­che Schich­ten zu ei­nem Re­prä­sen­ta­ti­ons­me­di­um, das von ade­li­gen Vor­bil­dern in­spi­riert war. Wert­vol­les Ge­schirr und ei­ne aus­ge­präg­te Ta­fel­kul­tur tru­gen zur In­sze­nie­rung der so­zia­len Stel­lung bei. Im 20. Jahr­hun­dert fand dann ei­ne Nor­mie­rung und De­mo­kra­ti­sie­rung der (fest­li­chen) Tisch­ge­stal­tung statt, die nur klei­ne­re mo­di­sche Va­ri­an­zen in Be­zug auf Form, Ge­stalt und An­ord­nung ent­hält, nun aber für brei­te­re Schich­ten zum Stan­dard wur­de. Ma­ß­geb­lich zu die­ser Stan­dar­di­sie­rung bei­ge­tra­gen ha­ben Koch­bü­cher, die häu­fig Ka­pi­tel zur „rich­ti­gen“ Tisch­ge­stal­tung be­inhal­te­ten und so Nor­men und Kon­ven­tio­nen trans­por­tie­ren. „Das bes­te bür­ger­li­che Koch­buch“ von Em­ma Al­leste­in aus dem Jahr 1930 ent­hielt et­wa ei­ne lan­ge An­lei­tung zum „Tisch­de­cken und Ser­vie­ren“: „Hat man Gäs­te, muss man dem Ti­sche ei­ne be­son­de­re Sorg­falt wid­men. Vor al­lem sor­ge man na­tür­lich für ta­del­los sau­be­re Tisch­wä­sche, Ge­schirr und Sil­ber“ hei­ßt es dar­in. Tat­säch­lich schei­nen sich die­se Nor­mie­run­gen durch­ge­setzt zu ha­ben. Rhein­län­de­rin­nen und Rhein­län­der be­rich­te­ten, dass um 1920 „an Fest­ta­gen bes­se­res Por­zel­lan, Sil­ber­be­steck und manch­mal Ker­zen und Blu­men­schmuck“ her­aus­ge­holt wur­den und auch das Fo­to ei­ner Hoch­zeits­ge­sell­schaft von 1969 aus Köln zeigt ei­nen ähn­li­chen ge­deck­ten Tisch mit wei­ßem Tisch­tuch, Be­steck, Wein­glä­sern, Ser­vi­et­ten und Blu­men in der Mit­te. Heu­te wer­den ge­sell­schaft­li­che Vor­stel­lun­gen ei­ner­seits in­ner­fa­mi­li­är tra­diert, an­de­rer­seits aber auch durch Me­di­en trans­por­tiert. So hei­ßt es 2014 auf der Home­page der Zeit­schrift „Li­ving at ho­me“: „An ei­nem Fei­er­tag kann es nicht fest­lich ge­nug zu­ge­hen. Da darf ein stim­mungs­voll ge­deck­ter Tisch na­tür­lich nicht feh­len. Ed­les Ge­schirr er­strahlt im Ker­zen­licht und har­mo­niert mit Gold und Rot.“

Dekoration unterscheidet Alltag und Festtag

Festliche Tafel anlässlich des Diner en blanc, eines öffentlichen Festessens in der Fußgängerzone. Bonn 2013.
Foto: Bauer, Katrin/LVR

Die­se Be­to­nung des Fest­li­chen in der Um­fra­ge „Nah­rung und Spei­se im Wan­del nach 1900“ und die ge­nau­en An­lei­tun­gen, wie ein fest­lich ge­deck­ter Tisch aus­zu­se­hen hat, im­pli­ziert aber auch, dass der Tisch im All­tag an­ders ge­deckt war. Ein­fa­ches Ge­schirr, manch­mal aus Zinn, nicht im­mer Be­steck, nur sel­ten ei­ne Tisch­de­cke und „Ser­vi­et­ten nur bei be­son­de­ren An­läs­sen“ – so sah der ge­deck­te Tisch im All­tag An­fang des 20. Jahr­hun­derts aus. Die Ein­füh­rung tech­ni­scher Neue­run­gen wie der Spül­ma­schi­ne in den 1960er Jah­ren, die Ver­bil­li­gung von Por­zel­lan durch Mas­sen­pro­duk­ti­on und die Ver­brei­tung neu­er Werk­stof­fe wie Plas­tik hat­ten bald star­ken Ein­fluss auf Es­s­prak­ti­ken und da­mit auch auf die Ge­stal­tung des Ess­ti­sches. Auch ge­sell­schaft­li­che Wand­lungs­pro­zes­se wie Ar­beits­struk­tu­ren und -rhyth­men oder die Ver­än­de­rung von Ri­tua­len und Brauch­an­läs­sen be­ein­flus­sen bis heu­te Tisch­de­ko­ra­tio­nen und die dar­in ver­mit­tel­ten Wer­te und Nor­men. Und heu­te? Über den ge­deck­ten All­tags­tisch wis­sen wir we­nig, er ist zu all­täg­lich und des­halb oft nicht „wer­t“, fo­to­gra­fiert zu wer­den. Die Um­fra­ge „Iss was!?“ von 2003 über das Ess­ver­hal­ten von Schü­le­rin­nen und Schü­lern zeigt, dass un­ter der Wo­che nur sel­ten ge­mein­sa­me Mahl­zei­ten ein­ge­nom­men wer­den und die Ju­gend­li­chen ih­ren Hun­ger eher zwi­schen­durch stil­len. Dies deu­tet dar­auf hin, dass sich durch das ver­än­der­te Ess­ver­hal­ten auch die Pra­xis än­dert. Es wer­den ver­mehrt „to-go-Pro­duk­te“ kon­su­miert, bei de­nen der ge­deck­te Tisch kei­ne Rol­le mehr spielt. Gleich­zei­tig in­sze­nie­ren Fern­seh­sen­dun­gen wie „Das per­fek­te Din­ner“ oder Life­style-Zeit­schrif­ten auch heu­te den ge­deck­ten Tisch und trans­por­tie­ren so ge­sell­schaft­li­che Vor­stel­lun­gen.

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