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„Zu Tisch!“

Tischrituale als gesellschaftliche Indikatoren

Tischrituale zeigten und zeigen, dass Essen für den Menschen stets mehr bedeutet, als nur das Stillen seines Hungers. Sie sind Teile eines Regelwerks, das Essen zu einem sozialen Ereignis werden lässt.

Tischordnung als soziale Ordnung

Käthe S. aus Linnich-Körrenzing zur Tischordnung in ihrer Kindheit: „Der Vater saß an einer Stirnseite des Tisches, daneben seitlich die Mutter mit dem Kleinstkind, dann die anderen Kinder in individueller Folge.

Er­in­ne­run­gen aus den Jah­ren 1900 bis 1980 von Zeit­zeu­gen aus dem Rhein­land zei­gen, dass die Tisch­ord­nung Wi­der­spie­ge­lung und Si­che­rung der so­zia­len Ord­nung sein kann. Dies ver­deut­licht bei­spiels­wei­se der Be­richt von Kä­the S. aus Lin­nich-Kör­ren­zing: „Je­der hat­te ei­nen fes­ten Platz, der von ei­nem an­de­ren Fa­mi­li­en­mit­glied nicht ein­ge­nom­men wer­den durf­te.“ Ma­ria F. aus Nieu­kerk be­stä­tigt eben­falls ei­ne ein­deu­tig hier­ar­chi­sche Sitz­ord­nung bei Tisch, wie sie auch bei fest­li­chen An­läs­sen üb­lich war: „Der Gro­ßva­ter blieb der ‚Par­ti­arch‘ und saß oben­an am Kopf­en­de, an den Längs­sei­ten rechts sei­ne Frau, links sein Nach­fol­ger, un­ser Va­ter. Nach Opas Tod be­kam Va­ter die­sen Platz. (…) Bei Fest­ge­mein­schaf­ten wur­den die Gäs­te nach Rang und Al­ter plat­ziert, wir Kin­der ka­men dann ins Ne­ben­zim­mer.“ Die fei­nen Un­ter­schie­de be­züg­lich der Stel­lung zwi­schen Tisch­nach­barn mar­kier­ten auch das Auf­tra­gen der Ge­rich­te und das Zer­tei­len der Spei­sen. Denn das Tran­chie­ren von Ge­flü­gel und Zer­le­gen von Schwei­ne­ripp­chen war nach zahl­rei­chen Be­richt­er­stat­te­rin­nen und Be­richt­er­stat­tern Sa­che des Haus­herrn. Die Rei­hen­fol­ge beim Vor­le­gen bei Tisch und auch wer Brot oder Bra­ten an­schnitt, va­ri­iert nach Aus­kunft der Be­frag­ten. Manch­mal wa­ren es Mut­ter und Va­ter al­lei­ne, an­dern­orts bei­de zu­sam­men. Aus Nieu­kerk wird be­rich­tet, dass ge­mäß der Rang­ord­nung bei Tisch die Ge­rich­te „oh­ne Schwie­rig­kei­ten der Rei­he nach“ ver­teilt wer­den konn­ten. Die Re­geln beim Ver­zehr des Es­sens, al­so bei­spiels­wei­se die Be­nut­zung von Be­steck und Ge­schirr, ha­ben sich eben­falls ge­än­dert und be­fin­den sich in zu­neh­men­der Auf­lö­sung.

Bedeutungswandel des Tischgebets

Hochzeitsgesellschaft an der Festtafel, vermutlich in einer Gaststätte. Köln 1969.
Foto: Marianne Hack/LVR

Hat­te sich die Fa­mi­lie zu Tisch ge­setzt, be­gann die Mahl­zeit zu­meist nicht oh­ne ein er­öff­nen­des Ge­bet. Ei­ne Schil­de­rung der im Jahr 1912 ge­bo­re­nen Ma­ria Z. aus Was­sen­berg-Ons­beck ist zeit­ty­pisch: ge­spro­chen wur­de das „Tisch­ge­bet vor und nach den Mahl­zei­ten, das im Lau­fe der Zeit im­mer mehr an Be­deu­tung ver­lo­ren hat, im­mer kür­zer wird und ganz zu ver­schwin­den droh­t“, wie Frau Z. be­fürch­tet. Bei den Ka­tho­li­ken wur­de - ein­ge­lei­tet durch das An­ge­lus­leu­ten, dem mor­gend­li­chen, mit­täg­li­chen und abend­li­chen Läu­ten der Kirch­glo­cken - der „En­gel des Herrn“ ge­spro­chen. Ein ein­fa­ches, weit­ver­brei­te­tes Tisch­ge­bet in ei­ner kür­ze­ren Va­ri­an­te ist eben­falls aus Was­sen­berg-Ons­beck über­lie­fert: „Komm, Herr Je­sus, sei un­ser Gast – und seg­ne was du uns be­sche­ret hast. Amen.“ Zum Ab­schluss des Es­sens wur­den eben­falls ein­fa­che Ver­se ge­spro­chen: „Gra­ti­as, wir dan­ken Gott, dem Herrn. Denn er ist uns so freund­lich. – Und sei­ne Gü­te wäh­ret ewig­lich. – Amen.“ Das Ge­bet in sei­ner laut ge­spro­che­nen Form stif­te­te nach der Über­zeu­gung der Be­ten­den nicht nur Ge­mein­schaft zwi­schen Gott und den Men­schen, son­dern stärk­te auch die Spei­se­ge­mein­schaft selbst – wenn­gleich auch nicht je­des Ge­bet tat­säch­lich aus tief emp­fun­de­nem Glau­ben ge­spro­chen wur­de, son­dern teil­wei­se schlicht­weg als Norm Ak­zep­tanz fand. Im Ver­lauf des 20. Jahr­hun­derts wur­de es im pri­va­ten und öf­fent­li­chen Raum im­mer üb­li­cher, auf das Ge­bet zu ver­zich­ten und statt­des­sen das Es­sen da­mit zu er­öff­nen, sich ein­an­der ei­nen „Gu­ten Ap­pe­tit“ oder Ähn­li­ches zu wün­schen. Ge­be­te kön­nen in grö­ße­ren Grup­pen oder bei of­fi­zi­el­len An­läs­sen zu Ir­ri­ta­tio­nen füh­ren, nach­dem Re­li­gio­si­tät im Zu­ge der Sä­ku­la­ri­sie­rung und Ent­kirch­li­chung im öf­fent­li­chen Raum an Be­deu­tung und Ver­bind­lich­keit ver­lo­ren hat.

Tischordnungen heute

Brotanschneiden beim Abendbrottisch, Löhndorf 1970.
Foto: Landesbildstelle Rheinland, LVR-Zentrum für Medien und Bildung/LVR

Aus der Um­fra­ge „Iss was!?“ zum Ess­ver­hal­ten Ju­gend­li­cher zeigt sich, dass ein ge­mein­sa­mes Fa­mi­li­en­es­sen zu Be­ginn des 21. Jahr­hun­derts für acht von zehn Ju­gend­li­chen nur am Wo­chen­en­de statt­fand. Fast ein Drit­tel der Be­frag­ten be­stä­tig­te, dass zu die­sen Ge­le­gen­hei­ten auf­wen­di­ger ge­kocht wur­de als un­ter der Wo­che. Tisch­ri­tua­le – wie der strik­te ge­mein­sa­me Be­ginn des Es­sens oder auch ei­ne be­stimm­te Rei­hen­fol­ge der Gän­ge - nah­men da­bei al­lei­ne schon durch den grö­ße­ren zeit­li­chen Rah­men und das kol­lek­ti­ve Han­deln ei­ne zen­tra­le­re Stel­lung ein. Dass Ri­tua­le ver­han­del­bar und wan­del­bar sind, zeigt sich auch beim „ein­sa­men Es­sen“, wie es un­ter der Wo­che für fast die Hälf­te der Ju­gend­li­chen über 16 Jah­re Rea­li­tät war: zum Es­sen lief viel­leicht die Lieb­lings­se­rie, wur­de on­line Un­ter­hal­tung ge­sucht oder mit ei­nem Freund te­le­fo­niert: die Frei­heit, Re­geln und Nor­men in­di­vi­du­ell für sich zu be­stim­men geht mit ei­nem Ver­lust von ge­mein­sa­men Nor­men und Wer­ten ein­her.

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